Aus dem Internet-Observatorium #44
Twitter vs. Substack / Das (doch nicht) verschwindende Web?
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Hier über Substack schreiben ist etwas meta, aber manchmal lässt es sich nicht vermeiden…
Twitter vs. Substack
Elon Musk unterdrückt Links und Shares zu Substack, lässt die Twitter-Suche bei Suchen nach dem Begriff “Substack” nur Ergebnisse mit dem Begriff “Newsletter” anzeigen und blockt Twitter-Embeds in Substack-Artikeln. Um nimmt dann alles (bis auf die Embed-Blockade) zurück. Nach Kohärenz in Sachen “Plattform der Meinungsfreiheit” oder Strategie lohnt es sich nicht zu suchen. Und wer hatte sich einst nochmal über die Praxis Shadowbannings beschwert?
Soweit, so aus den vergangenen Tagen bekannt. Was ich nicht gelten lassen möchte: Das Narrativ, dass die Abschottung vom Web eine 180-Grad-Wende darstellt. Denn Musks Politik gegenüber Substack (und auch Mastodon und Linktree) ist nur eine Fortsetzung der Firmenstrategie in extremer Form.
Wer es ganz streng sieht, wird das Ende vieler Drittanbieter-Apps im Jahr 2012 als Ende des “offenen Twitter” betrachten. Ich halte 2016 als das Jahr sehen, in dem Twitter als eine der letzten Plattformen die Wendung nach Innen vollzog. Dazu gehörte einerseits, die algorithmisierte Timeline zu priorisieren und mit kräftigen Verstärkungseffekten zu versehen. Ob das eine gute Idee war, kann jede/r selbst entlang des gegenwärtigen Diskursklimas vermessen.
Der zweite Punkt diente ebenfalls der Steigerung der Verweildauer, die damals für eine Social-Media-Plattform zu gering war: Twitter versah Links mit einer Reichweitenbremse. Tweets, die nach außen verlinkten, wurden in diesem neuen System in der Regel eher versteckt als gepusht. Das zeigt auch der jüngst veröffentlichte Source Code. Twitter verfolgt also bereits länger eine kaum versteckte Walled-Garden-Strategie.
Anlass für die kurze Substack-Blockade war offensichtlich die Sorge, dass man hier vom Twitter-Traffic profitiert, zugleich mit “Notes” einen Twitter-Klon an den Start bringt. Auf den ersten Blick nachvollziehbar, aber als Reaktion wieder einmal kurzsichtig und nahe an der Albernheit.
Denn Twitter ist als Text-Plattform zumindest auf die Fähigkeit zur Verlinkung angewiesen; zudem hat man eine Nutzerbasis, die auf öffentliche Einschränkungen allergisch reagiert. Die bisherige Strategie der Reichweitenbremse hat sich deshalb als erfolgreicher erwiesen - die Nutzer würden nie auf Links verzichten, haben ihr Verhalten aber angepasst. Und die obere Twitter-Mittelschicht kann mit fünf- bis sechsstelliger Follower-Zahl trotzdem noch Link-Traffic erzielen.
Ich glaube auch, dass “Substack Notes” keine Gefahr darstellt. Denn die obere Twitter-Mittelschicht wird der Plattform treu bleiben. Im November vergangenen Jahres notierte ich:
“Kulturelles Kapital lässt sich für die gegenwärtige Form von “Twitter-Berühmtheit” nicht so einfach transferieren. Nur die wenigsten Twitterati werden sich die Mühe machen, Zeit in einen Substack-Newsletter zu investieren. Und für 5000 Mastodon-Follower zu posten ist etwas anderes, als 50.000 Twitter-Follower zu bespielen.”
Musk hat also Spielraum für weitere Dummheiten und Trollereien, sofern er nicht irgendwann einmal for the lulz mit Hakenkreuz-Binde aufmarschiert. Und selbst dann wäre ich mir nicht sicher. Denn es wird für die obere Twitter-Mittelschicht immer bequemer sein, sich über ihn aufzuregen, sich lustig zu machen und ihn zu kritisieren, als sich anderswo neue Reichweite aufzubauen. Twitters Sterbeprozess dauert also noch etwas länger. Solange Twitter, äh… “X”??… nicht tatsächlich in die Insolvenz geht.
Anders sieht es bei Substack aus: Dort wird man offenbar wegen Finanzierungsproblemen ob der hohen Bewertung (650 Millionen Dollar) zunehmend nervöser. Seit Ende März bietet man seinen Autoren und Autorinnen an, sich mittels Crowdfunding an der Firma zu beteiligen. Insgesamt soll das Volumen fünf Millionen US-Dollar erreichen.
Damit reagiert Substack offensichtlich auf die Finanzierungsschwierigkeiten, eine neue Runde lässt weiter auf sich warten. Man lockt die Autorenschaft aber zu einer Bewertung von 650 Millionen US-Dollar mit ins Boot, obwohl sehr wahrscheinlich eine Downround ansteht, es sich also bei derzeitigen Zinsbedingungen um keine erfolgsversprechende Anlage handelt.
Insgesamt lenkt die Twitter-Kontroverse den Blick darauf, dass Substack massiv Geld verliert. 2021 zahlte man 16,5 Millionen US-Dollar an Autorenvorschüssen, nahm aber nur fünf Millionen Dollar durch die Abo-Beteiligung ein. Und für 2022 hält man offenbar noch Zahlen zurück. Das sind beunruhigende Signale.
Ich kann mir daher durchaus vorstellen, dass Twitter Substack in ein bis zwei Jahren kaufen wird, sofern Musk das Geld dafür hat. Eine Kombination aus Kurzform- und Langform-Publizistik wäre tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal und würde verschiedene Paywall- und auch Werbe-Optionen bieten. Bei Musks Orientierungslosigkeit ist aber auch eine Medium.com-Übernahme vorstellbar, was die günstigere, aber deutlich schlechtere Wahl wäre.
Eigentlich aber ist der Substack-Zwist für mich die unwichtigere Nachricht aus der Musk-Welt: Denn wie vergangene Woche bekannt wurde, haben Tesla-Mitarbeiter heimlich Videos der Auto-Bordkameras untereinander geteilt, darunter Unfälle oder einfach private Situationen. So sehr man sich an Nachrichten über solche Privatsphären-Verstöße im “Gottmodus” gewöhnt hat, so inakzeptabel und ungeheuerlich bleiben diese Vergehen. Ich hoffe, dass das in Europa zu schmerzhaften Strafen und in den USA zur ein oder anderen Sammelklage führen wird.
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Das Web verschwindet? Zwei Gegenargumente
Vergangene Woche hatte ich kurz skizziert, wie Chat-KI-Engines das öffentliche Web überflüssig machen könnten. Bei längerem Nachdenken finden sich zwei Gegenargumente
Es wird vermutlich nicht “ein” KI-Assistenzsysten, sondern eine ausdifferenzierte Landschaft mit unterschiedlichen Kontexten geben (Informationsvermittlung, Organisation des Private, bestimmte Geschäfts-KIs wie der Bloomberg-Bot, etc.). Dort wäre dann in bestimmten Varianten auch Platz für das Web als Ankerpunkt bzw. es gäbe weniger Gründe, in einem nicht-oligopolistischen Umfeld alleine über APIs zu agieren (glaube ich).
Webseiten selbst könnten natürlich mittels LLM-Engines sehr viel dynamischer und damit kontextsensitiver werden. Wie genau das aussieht, welche Protokolle dafür benutzt werden und auf welche privaten Informationen dabei zurückgegriffen wird: Ich habe keine Ahnung. Und ich weiß auch nicht, ob diese Form von “Truly Responsive Design” nach längerem Nachdenken wirklich eine gute Entwicklung wäre.
Maschine zur Muster-Synthese (PSE statt KI?)
“I’m more comfortable calling “AI” a “pattern synthesis engine” (PSE). You tell it the pattern you’re looking for, and then it disgorges something plausible synthesized from its vast set of training patterns.
The pattern may have a passing resemblance to what you’re looking for.
But even a lossy, incomplete, or inaccurate pattern can have immediate value. It can be a starting point that is cheaper and faster to arrive at than something built manually.”
Danilo Campos mit einer präzisen Beschreibung. Ich selbst hatte ja länger den Ausdruck “selbstlernende Software” verwendet, aber wahrscheinlich wird das den Anwendungen inzwischen nicht mehr gerecht (und LLM für Large Language Models passt eben auch nicht auf alles).
Links
China legt Entwurf für eine stärkere Regulierung von LLM-Chatbots vor.
Juice Jacking - Vorsicht vor öffentlichen USB-Ladestationen
Brian Feldman mit dem besten Take zu Musktwitter vs. Substack
Was verlangt das neue Energieeffizienzgesetz von Rechenzentren in Deutschland (und was nicht)?
Fedha, eine synthetische TV-Moderatorin in Kuweit.
Bis nächste Woche!
Johannes