Aus dem Internet-Observatorium #39
Gamification und Content-Inflation / Digitales Wettbewerbsrecht / Googles AI-Timing
Mit diesem psychedelischen, halbfertigen Midjourney-Bild willkommen zu einer neuen Ausgabe! An dieser Stelle gleich ein Hinweis: Die nächste Ausgabe erscheint erst in 14 Tagen, da ich in der kommenden Woche unterwegs bin.
Gamification und Content-Inflation
Das Video oben stammt aus dem Jahr 2010. Es zeigt den Videospiel-Designer Jesse Schell, wie er - anlässlich von Farmville und Co. - die Gamification unseres Alltags prophezeit. Gerne mal reingucken, ab Minute 22 kommt der freakige Teil - wie wir für Bonuspunkte Bus fahren, für unsere Gesundheitsversicherung den Puls beschleunigen oder Zähneputzen als Spiel verstehen.
Was Schell beschreibt, ist trotz Zahnbürsten-App (noch) nicht vollständig eingetreten. Aber doch so nahe an der Realität, dass uns der Spott, mit dem dieser Prognose 2010 begegnet wurde, wie ein Pfeifen im Walde vorkommt.
Drew Austin von
, den ich hier häufiger zitiere, beschäftigt sich intensiver mit dieser Gamifizierung unseres Lebens. “LinkedIn und World of Warcraft sind sich erstaunlich ähnlich”, stellte er im vergangenen Herbst dazu fest. Ob wir irgendwelche digitalen Wertgegenstände in Online-Games oder bestätigte Fähigkeiten bei LinkedIn einsammeln, ob wir 10.000 Schritte täglich gehen oder rechtzeitig unser tägliches BeReal posten - der Mechanismus dahinter ist der gleiche.Aber handelt es sich dabei um Arbeit oder Spiel? Gamifizierung als Konzept hat diese Frage nie beantworten müssen, sie ist nur der Kontext, in dem Reize uns zu spiel-artigem Verhalten anregen.
In seinem aktuellen Newsletter schreibt Drew Austin: Dieses Spiel ist nicht nur (unbezahlte) Arbeit, sondern hat auch weit größere Dimensionen, als wir ahnen.
Denn unsere (arbeits-)freie Zeit ist voller Gelegenheiten zur Produktion von Content.
“To the degree that any IRL object or experience is potential content, it is also theoretically monetizable.”
Warum ist die Produktion von Content wichtig? Weil wir, so meine (und die gängige) Interpretation, digital kulturelles Kapital ansammeln. Von der Gewissheit, wahrgenommen zu werden über das Steigern von Reputation im beruflichen Kontext (unsere generischen LinkedIn-Postings) bis hin zur direkten Monetarisierung als Creator/Influencer etc..
Drew Austin weist allerdings darauf hin: Dieser Überfluss von digitalem Content geht nicht mit einem Überfluss in der physischen Welt einher, der unsere Versorgung sichern würde. Wir müssen weiterhin unseren Lebensunterhalt bestreiten. Was eben - besonders, aber nicht nur für die “Kreativbranche” - bedeutet, dass wir in einer Welt fast unendlichen Contents um die wenigen Plätze konkurrieren, in denen “Content” überhaupt irgendeine Form von Rendite abwirft. Also Sichtbarkeit, Reputation oder Geld. Ich würde es die Entwertung des kulturellen Kapitals durch angebotsseitige Inflation nennen. Drew Austin folgert deshalb:
“A century ago, Max Weber wrote, “The Puritan wanted to live a vocational life—we are forced to.” We could update this statement for the social media age by saying that past generations wanted to be famous, but we are forced to be.”
In dieser Welt, in der unser Wert als “Konsument” immer deutlich höher als unser Wert als (Content-)Produzent sein wird, sind wir also zum Spielen gezwungen. Mehr noch: Das Content-Spiel selber wird in einigen Bereichen deutlich wichtiger als alles andere, ja fast existentiell Aber es ist ein Spiel, bei dem nur wenige gewinnen können.
Digital-Kartellrecht auf einer Wellenlänge
Die New York Times blickt in ihrem Dealbook aus internationaler Sicht auf die geplante Microsoft-Übernahme von Activision Blizzard. Und siehe da: Sowohl die EU, als auch die USA und Großbritannien haben wettbewerbsrechtliche Einwände gegen den Deal. Zitat:
“Cooperation among antitrust regulators isn’t new, and U.S. regulators have long discussed timing on cases, arguments, objections and potential remedies with their foreign counterparts. The shift now is that what are perhaps the three most important regulators worldwide — the F.T.C., the European Commission, and Britain’s Competition and Markets Authority — are roughly on the same page. All of them want to be seen as tough on deals.”
“All want to be seen tough on deals” - also eine harte Linie bei Übernahmen: Das wird ein zentraler Punkt bei der Entwicklung von Big Tech (bis zur nächsten US-Präsidentschaftswahl zumindest). Dass Microsoft in OpenAI einsteigt, aber auf eine Übernahme verzichtet, zeigt wie vorsichtig man inzwischen ist.
Googles KI-Timing
Gerade im Zusammenhang mit den Wettbewerbsfragen ist es hilfreich, dass Paris Marx in seinem neuen Newsletter
anmerkt, dass Google mit seiner AI-Erweiterung Bard alles andere als “zu spät dran” ist. Sondern ein ziemlich gutes Timing an den Tag legt:“If Google had been the first to launch a product like ChatGPT, it would’ve faced a lot more scrutiny because of its dominant market position and ongoing antitrust investigations. But having OpenAI rip off the band-aid allows it to say it’s just responding to competitive pressure, not irresponsibly leading the charge regardless of the consequences.”
Weizenbaums Fragen
In seinem Aufsatz “Once more—A Computer Revolution” aus dem Jahr 1978 stellte Joseph Weizenbaum fünf Fragen zur technologischen Entwicklung, die seiner Ansicht nach allzu oft ignoriert werden.
“Who is the beneficiary of our much-advertised technological progress and who are its victims?
What limits ought we, the people generally and scientists and engineers particularly, to impose on the application of computation to human affairs?
What is the impact of the computer, not only on the economies of the world or on the war potential of nations, etc…but on the self-image of human beings and on human dignity?
What irreversible forces is our worship of high technology, symbolized most starkly by the computer, bringing into play?
Will our children be able to live with the world we are here and now constructing?”
Dieses Essay erinnert daran, warum wir die Unterscheidung zwischen dem “Können” und dem “Sollen” nicht als Meta-Debatten abtun sollten. Und warum Weizenbaums Warnungen deshalb brandaktuell sind.
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Und das war noch vor dem Skandal!
Bis in 14 Tagen!
Johannes