Liebe Internet-Beobachtende,
aufgrund der mir im Moment fehlenden Zeit an dieser Stelle eine Art Bottle episode. In der kommenden Woche könnte die Ausgabe ausfallen, da auch noch ein Umzug ansteht. Danke für das Verständnis!
Thema der Woche: Erinnerungen aus dem Permaweird
“Online zu sein, heißt einfach, ein Telefon zu haben - egal, ob wir darauf gucken oder nicht. “Extremely online” zu sein passiert, wenn die Angewohnheiten, die wir mit der Bildschirm-Kommunikation verbinden in unser Bewusstsein und unsere Identität und unser Verhalten einsickern - egal, ob ein Bildschirm in der Nähe ist. Online-sein ist hier kein Rückzug aus dem Alltag und dem Realen, sondern die Norm, die uns in der Welt und in unseren eigenen Köpfen ausrichtet. Es bedeutet, in Memes zu sprechen, mittels Fotos zu sehen, die Metriken zu kapieren und zu wissen, was zählt.”
Aus dem Real Life Mag (2016-2022, RIP)
“Der Hammer erweitert unsere Faust, der Speer unsere Zähne, die Hütte unsere Haut, das Rad unsere Füße - und elektronische Medien unser zentrales Nervensystem.”
Andrey Mir: The Medium is the Menace
Dries Depoorter: The Follower
“Neue Geschäfte und Restaurants wurden für das Foto optimiert. Überlegungen wie Komfort, Zugang oder Akustik waren zweitrangig, es ging um optische Anziehungskraft. Es war, als litt die Umgebung unter Dysmorphie, ihre Erscheinung zu verändern, um in einen zufällig gewählten Standard zu passen, der ihre eigentliche Funktion untergrub. Aber vielleicht war es genau umgekehrt. Vielleicht war der Zweck eines physischen Orts nicht mehr, physische Menschen unterzubringen. Vielleicht war ein Geschäft das Marketing-Instrument für ein Direktverkauf-Startup, so wie früher eine Webseite ein Marketing-Instrument für ein Ladengeschäft war. Glossier. Everlane. Warby Parker. The Sill. Wer in diese Geschäfte ging, hatte das Gefühl, in eine App zu spazieren. Das sah in echt sehr viel kleiner aus - wie Schauspieler, die im echten Leben kleiner sind, als sie im Film wirken.
Dayna Tortorici: My Instagram (2020)
“Der tägliche Wahnsinn, den das Internet verstärkt, ist der Wahnsinn dieser Architektur, die persönliche Identität ins Zentrum des Universums stellt. Es ist, also ob man uns auf eine Aussichtsplattform gestellt hätte, ein Fernglas in der Hand, das alles wie unsere Widerspiegelung aussehen lässt. Social Media hat dazu geführt, dass viele Menschen jegliche neue Information sofort als eine Art direkten Kommentar dazu auffassen, wer sie sind.”
Jia Tolentino: The I in Internet (2020)
“Was das Online-Leben ausmacht (also zu der Hölle macht, die es ist), ist die ständige und unmöglich zu verarbeitende Erkenntnis, dass Milliarden anderer Leute existieren, denen genau das passiert, was uns passiert. Ohne das Internet können wir die Existenz großer Massen anderer Egos in Begriffe fassen, aber das Internet macht sie real und immanent. Nicht, dass du dich konkret mit Milliarden Menschen verbinden könntest - sondern dass ungezählte Hunderttausende, denen du wirklich während deines Lebens online begegnest, dir deine eigene Bedeutungslosigkeit in einem Meer von Anderen klar macht. Die Konsequenz dieses Horrors der Vielzahl ist der tiefe Wunsch in uns, für andere einfach und widerspruchsfrei verstehbar zu sein - und zwar in einer Art und Weise, die uns angesichts dieser Erkenntnis tröstet. (…) Jeder muss ein Typus sein, der Imperativ der Kategorisierung. Zu viele Menschen, zu viele Beziehungen, zu viele Seelen da draußen. (…) Das Spiel beruht auf der Vorstellung, dass wir immer dabei sind, wir selbst zu werden, aber andere Menschen sich nicht verändern können.”
“Wenn ich mir die wichtigsten Trends der letzten fünf bis zehn Jahre ansehe, verkörpern sie alle einen ähnlichen Mangel an Menschlichkeit: Persönliches Branding, Biohacking, Virtual Reality, Reality TV, Filler und Filter, Botox und Schönheitsoperationen, “extremely online” sein, Corporate Activism, Minimalismus, Cancel Culture, Label für jeglichen Typus Person und Persönlichkeit, Zwei-Tage-Lieferung, Geisterküchen und Geistergeschäfte, E-Books, Cryptowährungen und NFTs, Smartwatches (die dich daran erinnern, dich zu bewegen). Jeder einzelne Trend fühlt sich auf eigene Art und Weise leer und sexlos an. Sie lassen sich alle auf das digitale Panopticon zurückführen, das Hyperobjekt du jour, das in jeder vorstellbaren Form in unser soziales Gewebe einfließt. Eine Art, den irritierenden Zustand der Welt zu betrachten, ist als einer Form von kollektiver sexueller Frustration.”
Haley Nahman: The death of sex
“Einer Art, diese Szene abzutun, begegnete ich mehrmals: Dass es sich um eine Mischung aus einem LARP [Live Action Role Playing, jk] und einer Abzocke handelte. Dass die Leute Überzeugungen und Werte vorspielten, obwohl sie gar nicht hinter ihnen standen, und das alles für Clout [Einfluss, jk]. (…) Aber es geht am Thema vorbei zu behaupten, diese Leute wären nicht wirklich Reaktionäre oder Traditionalisten. Kulturelle Rituale entfalten auch eine Wirkung, wenn man nicht an sie glaubt; der Glaube kommt erst später. Diese Leute “spielen” ihre Überzeugungen nicht, sondern mythologisieren ihr Leben.”
James Duesterberg: Among the Reality Entrepreneurs
“Der Job eines Influencers beinhaltet, sich ständig an die Bedingungen anzupassen, unter denen wir sichtbar werden und bleiben. Diese Arbeit könnte man in drei Bereiche aufteilen: widerspruchsfreie Selbstvermarktung (von der Soziologin Alison Hearn defininiert als “selbst-bewusste Konstruktion eines Meta-Narrativs und Meta-Bildes des Selbst”); Selbstoptimierung für Plattformen (seinen Content für algorithmische Systeme erkennbar machen); und Hingabe darin, Authentizität zu verkaufen (also alles oben Beschriebene tun, aber dabei gleichzeitig “nahbar” und “echt” wirken).”
Real Life Mag: Influencer Creep
“Offenherzig über einen Mordfall zu sprechen führt natürlich zu Kontroversen: “Ich habe einige DMs von Leuten bekommen, die behaupten, ich sei psychotisch”, erzählte Benefield jüngst in einem TikTok-Video. “Einige Leute sagen, es sei problematisch, dass ich darüber Witze mache, dass meine Eltern tot sind. Es sind meine Eltern! Ich kann so viele Witze machen wie ich will!”
Input Mag: Her dad’s killing made headlines. Now she’s creating content about it.
“Jeder normale Mensch mit ausreichender Fantasie wird kulturelle Superkräfte haben, wie sie einst den Hohenpriestern und Pharaonen vorbehalten waren.”
- Venkatesh Rao
“Ein Freund twitterte neulich, dass die endgültige Form des algorithmischen Social Media sein wird, dass “jeder Mensch Werbung für sich selbst schaltet, um seine Sichtbarkeit zu erhöhen.”
Drew Austin: Supraculture
“QAnon hat es auf alle großen kommerziellen Plattformen und eine ganze Reihe Nischenseiten geschafft. Tracy Diaz, eine unter dem Namen TracyBeanz bekannte QAnon-Evangelistin, hat 185.000 Follower bei Twitter und mehr als 100.000 YouTube-Abonnenten. Sie half dabei, QAnon bekannt zu machen und den Übersprung in Mainstream-Sozialmedien zu ermöglichen.”
Adrienne La France: The Prophecies of Q (2020)
“Als ich QAnon gesehen habe, wusste ich genau, was es war und wie es funktionierte. Es war die Gamifizierung von Propaganda. QAnon war ein Spiel, das Menschen spielte.”
Reed Berkowitz: QAnon resembles the games I design. But for believers, there is no winning.
Posting von reddit.com/r/QAnonCasualties
“Wir müssen uns einschalten, statt zu fliehen. Ja, was im Internet passiert, ist gerade verwirrend und chaotisch und seltsam. Weil das Ziel bösartiger Akteure ist, gezielt Konfusion zu erzeugen und Apathie auszulösen, was echt und was unwahr ist. Aber du kannst mit der Nachwahrheit umgehen. Weil wir herausfinden können, wie die Nachwahrheits-Bewegungen funktionieren.”
Aaron Z. Lewis: You can handle the post-truth - a pocket-guide to the surreal internet
“Wir alle, in unserer Menschlichkeit und unserem gelebten Leben, sind nichts als die Karikaturen unserer Seele. Wir sind immer weniger als wir sind. Wir bleiben immer eine groteske Übersetzung dessen, was wir gerne wären, und dessen was wir tief drinnen und wirklich sind.”
Colm Tóibín: I haven’t been I - The Real Fernando Pessoa
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes