Liebe Internet-Beobachtende,
heute mal wieder eine reguläre Ausgabe mit einem längeren Essay.
Thema der Woche: Am Ende des Maschinenmythos?
L.M. Sarcasas’ Ideen finden häufiger seinen Weg in dieses Internet Observatorium. Anders als das deutsche Feuilleton (Hi!) basiert seine Technologiekritik nicht auf mit Wert- und Moralurteilen ummantelter Nostalgie, sondern auf dem Versuch, die Dinge zu durchdringen. “Technologie” ist für ihn, ganz im Sinne von Lewis Mumford und Ivan Illich, kein Teilaspekt unserer Zivilisation, sondern in jeglichem Zusammenwirken unserer Gesellschaft sichtbar und damit jenseits einzelner Phänomene zu betrachten. Und selbst wenn ich die daraus entstehende Kritik nicht immer teile, so ist sie garantiert immer lesenswert.
Die längliche Einleitung bringt mich zu seinem aktuellen Essay über den Maschinenmythos. Es ist die Skizze einer Theorie moderner Gesellschaften, die ungefähr so aussieht (ich hoffe, das wird nicht zu sehr Blinkist):
Drei Annahmen prägen für ihn die Moderne: Objektivität, Unbefangenheit und Neutralität. Bei genauerer Betrachtung sind das keine Synonyme, sondern: Die Annahme, dass wir in einem Dreiklang leben können, der aus objektiv feststellbarem Wissen, unbefangenen politischen und rechtlichen Institutionen, und Technologien besteht, die ebenfalls als neutrale Werkzeuge mit einem in der Regel gesellschaftlichen Nutzen fungieren.
Er macht dazu eine Menge Fußnoten und Einschränkungen, deshalb sei das Essay komplett empfohlen. Er sieht aber, grob gesagt, folgende Zeitsequenz: Das 17. Jahrhundert ist von der Suche nach objektiv feststellbarem Wissen geprägt (der “Archimedische Punkt”, von dem aus sich die Welt aus einer Universalposition betrachten lässt).
Im 18. Jahrhundert beginnt mit dem politischen Liberalismus das Streben nach unbefangenen politischen und rechtlichen Institutionen - einer Art “Maschine”, die politische Unterschiede und Konflikte schlichten oder über sie entscheiden kann. Und schließlich beginnt im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung ein Zusammenwirkung von technologischer Entwicklung und Fortschrittsdenken. Die Vorstellung der Maschine prägt letztlich auch Vorstellungen wie den Deismus oder die Idee der unsichtbaren Hand des Marktes.
Unsichtbare Hände und Technokratie-Einflüsse
Für Sacasas hängt das alles zusammen: Die Vorstellung der Neutralität/Rationalität der Maschinen führt letztlich zur Vorstellung, dass auch Menschen und Institutionen neutraler/rationaler agieren, je stärker ihr Handeln so nachvollziehbar und präzise wie das einer Maschine ist - also letztlich das Gegenmodell zu Willkür, Beeinflussung und Bevorzugung. Die Kulmination des Ganzen ist für ihn die Technokratie, die ich als Versuch eines politisch-technischen Lösungsdesigns beschreiben würde. Das Zeitalter der Technokratie verortet er in der westlichen Welt von Mitte des 20. Jahrhunderts bis (in den USA) zum Ende der Obama-Ära.
Nun ist dieser dargestellte Maschinenmythos allerdings nicht ohne innere Widersprüche - man muss nicht die Atombombe bemühen, um zum Beispiel auf Kritik am Fortschrittsdenken zu kommen. Ich greife hier als kleinen Exkurs stellvertretend diesen Aufsatz von Barbara Penner und Adrian Forty heraus, der sich mit verschwundenen Technologien beschäftigt. Zur Weltaussstellung 1851 in London, deren Einfluss auf die Entwicklung unseres modernen Technik- und Weltbildes kaum zu unterschätzen ist, schreiben sie (Fettungen von mir):
“With its roster of international displays, the exhibition promoted a liberal ideology of free trade and open markets; yet with its strong colonial presence, it signaled dependence on export and import commodities, captive markets, and cheap labor. From the start, it was obvious that the prosperity on display at the Great Exhibition would never be equally distributed. And, for those who cared to see it, the terrible human and environmental costs of the new methods of manufacture and urbanization were already evident, if not in the Crystal Palace itself, then in its immediate environs, the streets of London.”
Ideologiekritisch gewendet schlussfolgern sie:
“In light of these contradictions, we begin to understand that evolutionary theory and narratives of progress had a crucial role to play in modernization: they were required to naturalize the impact of capitalism and to ensure its continued spread.”
Genau solche Desillusionierungen beschreibt Sacasas als Grund für den Zusammenbruch des Maschinen-Mythos: Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird zum Beispiel die Idee des objektiv gesicherten Wissens immer fragwürdiger, und damit meint er nicht nur die Konstruktivisten oder Postmodernisten
Einen ähnlichen Verlauf nimmt die Desillusionierung, was die “Neutralität”/Unbefangenheit der modernen Institutionen betrifft. Und zwar durch den maschinenartigen Charakter der Bürokratien (die letztlich immer vor allem ihre eigene Logik erfüllen möchten), aber eben auch das konkrete Scheitern der modernen Institutionen, wirklich “objektiv” zu handeln.
In diesem Zusammenhang verweist L.M. Sacasas auf den wichtigen Unterschied zwischen der Metapher der objektiven Maschine und Jacques Elluls Idee der “technique” entgegen (Fettungen von mir).
“Technique manifests itself in a variety of ways, but one key symptom is the displacement of ends by a fixation on means, so much so that means themselves become ends. The smooth and efficient operation of the system becomes more important than reckoning with which substantive goods should be pursued.”
Systeme oder “Techniken” funktionieren irgendwann nach einer Eigenlogik heraus: Die Akteure und Nutzer sind keine Handelnden im Sinne von zielstrebig Agierenden, sondern sie zielen auf Effizienzen im Sinne der eigenen Systemlogik. Effizienzen, die letztlich auf die Selbsterhaltung des Systems oder der eigenen Rolle darin dienen, nicht dem eigentlichen Zweck, für den dieses Werkzeug einmal entwickelt wurde. Wer das für zynisch hält, sollte einige Absätze weiterlesen.
Der Mythos von Technik als Fortschrittsinstrument sah sich dieser Kritik insgesamt nur am Rande ausgesetzt - selbst Marx war kein Maschinenstürmer, sondern ein Kritiker der (Eigentums-)Verhältnisse von Techniknutzung. Technik war bis vor kurzem die letzte funktionierende der drei Maschinen, so Sacasas. Ich würde ergänzen: Die Popularität politischer Technokratie von Tony Blairs “Deliverology” bis zur Karriere Mario Draghis zeigt, dass sie kurzzeitig sogar in anderen Feldern reüssierte.
Vernetzte Entmythisierungen
Für L.M. Sacasas zeigt sich an der wachsenden Kritik an den Digitalkonzernen und ihrer Methoden seit 2016, dass dieser dritte Maschinenmythos ebenfalls zerbricht. Ich würde allerdings ergänzen, dass hier sogar eine andere Entwicklung noch wichtiger ist: Das Hinterfragen der letzten 190 Jahre Fortschritts angesichts der aus diesem Fortschritt resultierenden Klimakatastrophe.
Diese drei Entmythsierungen (Wissen, Instanzen, Technik) sind in der Praxis miteinander verbunden, so wie es die Mythen waren: Denn unsere Digitaltechnologien tragen alleine durch die Masse an Informationen dazu bei, dass “Objektivität” und “Neutralität” hinterfragbar, dekonstruierbar oder schlicht mutwillig zerstörbar sind. Und die Idee einer “neutralen Instanz”, die diese Informationen ordnen und die Konflikte entschärfen könnte, erscheint zunehmend absurd.
Ich habe einmal in einem früheren Newsletter (#01) beschrieben, wie wichtig das Internet als Digitalarchiv in diesem Zusammenhang ist:
“Jede/r kann sich im fast unendlichen digitalen Archiv bedienen, daraus Weltsichten und Welterklärungen ableiten - und diese und auf dem vernetzten Markt der Öffentlichkeit platzieren (und durch Manipulation von Datenbank-Dynamiken verstärken). (…)
Der “Kampf um die Vergangenheit” war schon immer ein zentraler politischer Konflikt - und wenn wir uns die Kulturkämpfe der Gegenwart angucken, geht es dort eigentlich fast ausschließlich darum, wie wir Vergangenheit interpretieren. Doch im 21. Jahrhundert gibt es immer weniger Instanzen, die im Zusammenspiel (oder Konflikt miteinander) die Zahl der diskutierbaren Vergangenheiten eingrenzen.
Im vernetzten Zeitalter konkurrieren deshalb unzählige, mit unterschiedlichem Realitätsbezug ausgestattete Vergangenheiten miteinander bzw. um Follower. Entsprechend kann daraus keine gemeinsame Zukunftsidee entstehen. Was wiederum nahe legt, dass unsere Zukunft sehr chaotisch und unübersichtlich wird.”
In Ideen wie “Künstlicher Intelligenz” überlebt für Sacasas die alte Technikvorstellung - und mit ihr die Vorstellung einer objektiven Ordnung - noch, sogar auf die Spitze geschrieben (die Software ordnet und entscheidet). Genau wie es in der “Mitte” der Gesellschaften noch den Glauben an Objektivität und Unbefangenheit der Institutionen gibt - eben die Überzeugung, dass Institutionen trotz all ihrer Schwächen das festgelegte Ziel erreichen wollen und eben nicht nur noch einer reinen Eigenlogik folgen.
Für Sacasas ist das die neue politische Unterscheidung: Nicht links und rechts, sondern das Verhältnis zum Wert von Neutralität und Überparteilichkeit - ob man an sie glaubt, oder sie für inexistent, ja nicht einmal mehr für wünschenswert hält. Auch deshalb wirkt das politische Zentrum auf paradoxe Art konservativ, selbst wenn es politisch eher progressive Haltungen an den Tag legt.
Das ist natürlicher harter Tobak, aber als Denkrahmen durchaus diskutierenswert. Ich würde noch ergänzen, dass durch diese Entmythisierung kein Vakuum entsteht, sondern eben neue oder bislang weniger populäre Mythen die Plätze einnehmen.
Oder sogar schlicht Abwandlungen des Bisherigen, das immerhin auf eine lange und eingeübte Denk-Tradition aufbauen kann. Das Mashup des “Technopopulismus” ist ein gutes Beispiel für die Rekombination verschiedener Elemente. Aus dieser Folgemythen-Perspektive erscheint der allgegenwärtige Kulturkampf und das digitale Stammesdenken wie ein Kampf um die Pole Position bei dieser Neujustierung.
Ein Tweet
…und nun zu etwas völlig anderem
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit - und bis nächsten Dienstag!
Johannes