Liebe Internet-Beobachtende,
diese Ausgabe beschäftigt sich mit einem der Online-Aspekte des Ukraine-Krieges. Es gibt noch einige andere Digital-Tangenten, über die ich dann gegebenenfalls in den nächsten Ausgaben schreiben werde.
Thema der Woche: Der virale Krieg
Es liegt im Wesen des Krieges, zumal des modernen Krieges, dass er seine Außenwirkung (bild-)medial entfaltet. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bewegt sich entlang dieses Paradigmas. Allerdings unter den Bedingungen der 2020er Jahre.
Heißt: Ein weltweites Interesse wie zuletzt bei der amerikanischen Invasion im Irak sowie eine große Verbreitung von Smartphones und Breitband-Zugängen in der Ukraine treffen auf eine Medienlandschaft, in der soziale Medien nicht nur die Verbreitung von “Content” rund um den Krieg übernehmen, sondern auch seine Deutung dort stattfindet. Der "Mainstream" ist direkt oder auch indirekt (über die Informationsgewohnheiten breiter Schichten von Internet-Konsumenten sowie Journalisten) an den Social-Media-Loop angedockt.
Die Sorge, dass sich Russland in dieser Gemengelage mittels Falschanchrichten, Sockenpuppen-Strategien und (dem sich hartnäckig haltenden Mythos) Bots die Deutungshoheit verschafft, hat sich in der Breite bislang nicht bestätigt.
Um auch die regulären Kanäle russischer Kriegsdeutungen zu kappen, entschloss sich die EU zudem dazu, Sputnik und RT in Europa zu sperren. Eine rechtlich höchst problematische, aber im ersten Kriegsschock kaum kritisierten Zensurmaßnahme, die nun als Kriegsparagraph rechtlich im Digital Services Act verankert werden könnte.
In einer Konfrontation, in der die Rollen von Gut und Böse so klar verteilt scheinen, kann die russische Propaganda über Social Media im Westen kaum verfangen (in anderen Weltregionen sieht das anders aus). Verstärkt wird dieser Eindruck durch die erfolgreiche Social-Media-Propaganda der ukrainischen Regierung: Sie stilisiert den charismatischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seine Armee als David, der die Demokratie gegen die russischen Goliath verteidigt.
Dass Selenskyj vor dem Krieg als relativ planloser Präsident galt, tritt in diesen Zeiten ebenso in den Hintergrund wie die Tatsache, dass die Ukraine sich im Demokratieindex des Economist seit längerem jedes Jahr verschlechtert und zuletzt als “hybrides Regime” auf dem Niveau von Mexiko lag, noch hinter Ländern wie Thailand, Singapur oder Ecuador. Aber das nur am Rande.
Russland wiederum ist mit seiner Propaganda-Strategie an das eigene Narrativ gebunden: Wer von einer begrenzten Operation spricht, kann nicht wirklich mit Kriegsbildern punkten, die ein völlig anderes Ausmaß zeigen. Zumal das als Aggressor ohnehin wenig ratsam wäre. Für all die Moskau zugeschriebenen Kompetenz in Sachen Informationskrieg ist die Bilanz bislang - soweit messbar - ohnehin überraschend bescheiden. Wladislaw Surkows “Theater ideologischer Konfusion” gelangt bislang nicht zur Aufführung.
Der sozialmedial kuratierte Krieg
Das Säen von Zweifeln an den Motiven der ukrainischen Führung und des Westens scheint international am besten zu gelingen, wenn man an bestehende Nischen-Narrative andockt und sie verstärkt: So zum Beispiel an die aus dem QAnon-Umfeld stammende Theorie vom angeblichen amerikanischen Biowaffen-Labor in der Ukraine.
Insgesamt konzentriert sich Russland jedoch auf die Informationslenkung im eigenen Land. Die ohnehin repressive Gangart hat die Putin-Regierung durch neue Strafgesetze zu Meinungsäußerungen online wie offline verschärft; Verbote und Rückzug westlicher Tech-Plattformen beschleunigen den bereits begonnen Prozess, das russische Internet nach iranischem und chinesischem Vorbild vom Rest der Welt abzukoppeln.
Das überlässt es der Ukraine, den Krieg bis zu einem bestimmten Grad sozial-medial zu kuratieren. In der Regel geschieht das über Telegram und Twitter, aber auch mittels Instagram und TikTok. Die Ikonographie: Zivile Widerstandskraft und militärische Erfolge der Ukraine auf der einen Seite, rücksichtslose Aggression ohne Schonung von Zivilisten auf russischer Seite. Nicht nur die bewegtbildaffine Regierung, sondern auch Bevölkerung, Medienprofis, Mitarbeiter von Krankenhäusern, zivile Gruppen, aber auch lose Verbünde wie die freiwillige ukrainische “IT-Armee” verbreiten das Material. Die Anstrengung trägt also Züge sowohl Züge einer professionellen Kampagne, als auch die einer Graswurzel-Bewegung.
Die Veröffentlichung erfüllt einerseits den Zweck, die Realität des Kriegs zu dokumentieren - wobei “dokumentieren” insofern das falsche Wort ist, als Social Media anders als Nachrichtenmedien eine besondere Nähe zur gelebten Erfahrung herstellen.
Es wäre aber naiv, das alles nicht auch als Teil des Informationskriegs zu betrachten: Die moralische Kluft zwischen der angegriffenen Ukraine und dem angreifenden Russland wird so nicht nur deutlich, sondern erscheint mit jedem Video größer. Das ist diplomatisch relevant, wenn es darum geht, den Druck für internationale Unterstützung hoch zu halten; aber auch für das nationale Selbstwertgefühl und den Durchhaltewillen sind Heldenmythen in Kriegen stets von höchster Relevanz.
Wie immer gilt, dass einige Ereignisse nachprüfbar sind, und das sogar besser als in vordigitalen Zeiten. Andere - speziell ohne oder mit nur wenig verifiziertem Material - nicht. Erst in einigen Monaten oder sogar Jahren, wenn genügend Augenzeugen und Kriegsveteranen sprechen können und die Geschehnisse untersucht worden sind, werden wir ein vollständigeres Bild des russischen Angriffskriegs und begangener Kriegsverbrechen erhalten. Die Vorstellung eines Krieges, in dem Außenstehende digital einen Überblick oder sogar ein “Gefühl” für die Lage vor Ort haben, ist weiterhin ein Irrglaube.
Dennoch formt das, was wir medial vermittelt wahrnehmen, unsere Vorstellungen. Im Bereich Social Media trifft der “Content” dabei auf ein Publikum mit unterschiedlichem Kontext-Bewusstsein. Nicht nur qua Interesse, sondern auch qua Medium: TikTok macht dem Einzelnen als App, die Kurzvideos ohne Kontext hintereinander abspielt, die Prüfung von Inhalten fast unmöglich. Gefälschte Livestreams aus dem Kriegsgebiet, manipulierte Kriegsvideos bis hin zu Ausschnitten von Videospielen: Das alles fand unter den Vorzeichen der Aufmerksamkeitsökonomie seinen Weg auf die TikTok-Bildschirme.
Eskalationsmuster mit Einfluss auf den Meatspace
Auf Twitter wiederum führen die Einblicke in den Kriegshorror nicht nur zur Solidarisierung, sondern haben auch andere Effekte: Die politische amerikanische Medien-Rechte versucht zum Beispiel, den Ukraine-Krieg in den gegenwärtigen Kulturkampf einzubetten. Die angebliche Dämonisierung Russlands sei demnach nur Teil eines ausgeklügelten Plans von Ukraine und Biden-Regierung, die USA in einen Großkrieg zu führen. Videos von mutmaßlichen Kriegsverbrechen wie den Angriff auf ein Theater in Mariupol werden zur inszenierten False-Flag-Operation umgedeutet. Logische und faktische Widersprüche spielen keine Rolle in einer Cyberzivilisation unterschiedlicher Realitäten, deren Teil ja längst auch Deutschland ist.
Allerdings führt das Kriegsgeschehen teilweise auch zu einer wahrnehmbaren Radikalisierung im politischen Twitter-Mainstream, der sich an Fakten orientiert. Der ehemalige BBC-Journalist Dougald Hine formulierte es jüngst in seinem Newsletter so (Fettungen meine):
“One of the layers within the present horror is the way that the patterns of escalation familiar from Twitter and Facebook now look capable of feeding directly into world affairs. “That escalated quickly” loses whatever humour it once had when the swarm of collective attention, agitated by social media algorithms, is demanding NATO #closetheskies over Ukraine.”
Dieses Zusammenspiel des politischen Weltgeschehens mit den Social-Media-Mechanismen ist besorgniserregend, wie ich neulich schon auf meinem Blog schrieb. Rhys Lindmark verweist in diesem Zusammenhang auf den Militärhistoriker Michael Mazarr, der den Kern des Irakkrieg-Desasters der USA so beschrieb: Die amerikanische Führung habe die gängige “Logik der Konsequenzen“ (also die Abwägung der Folgen im Hinblick auf die Lage vor Ort und die eigenen Interessen) durch eine “Logik der Angemessenheit” ersetzt (also die Frage, welche Haltung in meiner Position und meinem Umfeld angemessen ist).
Aber eine Logik der Angemessenheit, die Haltung priorisiert und Konsequenzen hintan stellt, ist militärstrategisch gefährlich (siehe #closetheskies). Doch genau diese Logik prägt den Diskurs im öffentlichen Social Media, wo es im Kern ja immer um eine “angemessene Haltung” oder Bekenntnisse geht. Zumal in Kriegszeiten.
Social-Media-Mechaniken priorisieren Emotionen und entwerten Kontext. Und je stärker diese Mechaniken mit Weltgeschehen und politischen Entscheidungen verschränkt werden, desto größer die Gefahr von Irrationalität oder von Kompromissen mit der Irrationalität. Rhys formuliert es drastischer:
“We don’t want social media to “accidentally” optimize us for nuclear war.”
Damit drückt er ein Unbehagen aus, das bekanntlich auch ich schon lange spüre: Denn soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook sind eben nicht nur die neuen Massenmedien, sondern können auch als ein Hybrid aus Massenmedium und Massenbewegung funktionieren. Mit allen Konsequenzen.
Der Philosoph Justin E.H. Smith, der der russischen Kultur eng verbunden ist, zog jüngst einen Vergleich zu seiner Opposition gegen die Irak-Invasion 2003, als er demonstrieren ging. Sowohl damals, als auch bei der russischen Invasion heute sei er sich moralisch sicher gewesen, dass es sich um himmelschreiendes Unrecht handelt. Aber (Fettungen meine):
“(…)But I find myself rather less certain about the utility and the wisdom of “onboarding” with the opposition. One significant change over the past twenty years is that today the way we express our political commitment is often largely by entering into the pseudo-public sphere known as social media and inserting our “views” into an algorithmically determined system, so that to “say what you think” is in fact something more like “upvoting”, “giving an algorithmic boost”, rather than, say, articulating reasons.”
Solche gamifizierte “Datenbank-Dynamiken”, das zeigt die Hilfsbereitschaft bei der Aufnahme ukrainischer Geflüchteter, sind natürlich nur ein Teil unserer Reaktion auf den Krieg. Und dennoch dürfen wir nicht naiv sein: Der Input und Output in Social-Media-Plattformen ist nicht nur ein immer relevanter werdender Teil des Weltgeschehens, sondern beginnt durch seine Wechselwirkungen mit dem Meatspace den Verlauf der Geschichte immer deutlicher zu prägen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und bis Ausgabe #26!
Johannes