Liebe Internet-Beobachtende,
vielen Dank für die Geduld, ich bin aus der Wahlkampf-Berichterstattung zurück. Das hier ist der erste Teil zu den jüngsten Facebook-Entwicklungen; ein zweiter Teil folgt im November, dann gibt es von mir auch einen Deutschlandfunk-Hintergrund zur Regulierung von Social-Media-Diensten.
Thema der Woche: Facebook - zu groß, um zu funktionieren?
Ein Rückblick auf die vergangenen Wochen: Die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen hat dem Wall Street Journal interne Dokumente zugespielt, die inzwischen als “Facebook Files” bekannt sind. Vorletzten Sonntag gab sich Haugen zu erkennen, letzten Dienstag sagte sie vor einem US-Kongressausschuss aus.
Ein paar der Veröffentlichungen:
Facebook wusste anhand interner Studien, dass Instagram bei einem Drittel der Nutzerinnen im Teenager-Alter die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper verstärkte (allerdings bezieht sich die Zahl auf Nutzerinnen, die bereits angegeben hatten, mit dem eigenen Körper unzufrieden zu sein, Analyse hier , hier und grundsätzlicher hier).
Facebook überlegte intern, wie man Kinder im Vor-Teenager-Alter auf die Plattform locken kann.
Facebook tat zu wenig gegen Falschinformationen rund ums Impfen und gegen Menschenhändler.
In dieser Ausgabe will ich kurz auf die Rolle eingehen, die die Unternehmenskultur bei Facebook zu spielen scheint. In einer der nächsten Ausgaben werde ich mich dann konkret mit Regulierungsfragen beschäftigen.
Als ich in der Mitte des vergangenen Jahrzehnts in der Bay Area lebte, war Facebook für mich eine Black Box. Es war praktisch unmöglich an Mitarbeiter zu kommen, die nicht von der Firma ”vorgegeben” waren. Ähnliches galt für Apple, mit Abstrichen auch für Google. Verschwiegenheitsverpflichtungen waren der Hauptgrund, aber sicher auch ein intensives Zugehörigkeitsgefühl - speziell bei Jüngeren (und das war die Mehrheit der Belegschaft).
Gleichzeitig erinnere ich mich schon damals daran, in der Stadtbahn regelmäßig junge Techies in Bücher wie “Quarterlife Crisis” vertieft sah. Oder an Seminare für Berufsorientierung, an denen ich teilnahm: Dort musste jede/r sich einen Sticker ans Sweatshirt heften, was sie/er im Beruf suche, aber bislang noch nicht gefunden habe. Oft stand da auch bei Mitarbeitenden seinerzeit gehypter Startups der Begriff “Tech for Good” - Tech, um etwas Gutes zu ermöglichen.
Mobilisierte Mitarbeiter, gefangen in Wirklichkeitslücken
Es war die Zeit, in der der die Wirklichkeitslücke zwischen “Du veränderst in dieser Firma die Welt zum Besseren” und ”Du bist ein ersetzbares Rädchen im System, in dem Hyperwachstum das einzig relevante Ziel ist”, noch nicht so offen thematisiert wurde. (Anna Weiner hat die Zeit in ihrer Autobiografie “Uncanny Valley” sehr gut beschrieben)
Heute sind die Dinge anders: Der Ruf einiger Tech-Großkonzerne hat massiv gelitten, der Rechtfertigungsdruck gegenüber Familie und Freunden hat sich für Mitarbeitende erhöht. Die Politisierung des Landes durch die Trump-Ära und die interne Vernetzung durch Gruppenchat-Software wie Slack hat Mitarbeitende aktivistischer werden lassen (im Sinne von Forderungen nach mehr Diversität, aber auch was Arbeitsbedingungen angeht). Zu schweigen ist selbst für Apple-Angestellte nicht mehr selbstverständlich.
Die teils öffentliche, teils an Medien gesteckte Kritik hat ihren Kern in dem, was ich oben geschildert habe: Der Widerspruch von der Weltverbesserungsrhetorik und idealistischer Mission auf der einen Seite und den Firmenpraktiken auf der anderen Seite ist unauflösbar geworden - auch für viele Mitarbeitende selbst.
Dieser Konflikt hat - neben persönlichen Motiven - auch die Hunderte von Facebook-Mitarbeitern motiviert, den NYT-Journalistinnen Sheera Frenkel und Cecilia Kang als Quelle für ihr Buch “Inside Facebook” zu dienen. “Inside Facebook” hat im Gegensatz zu Nick Biltons Twitter-Biografie keine cineastischen Qualitäten; es zeigt aber gut, welche Unternehmenskultur und psychosoziale Firmenprozesse Facebook prägen - und welche Auswirkungen das für die Welt da draußen hat.
Wie aber sieht die Facebook-Firmenkultur demnach aus? In meiner Deutschlandfunk-Rezension aus dem Sommer habe ich es so formuliert:
“‘Das Problem an Facebook ist Facebook’, hat einmal Kritiker der Firma angemerkt. Frenkel und Kang werden konkreter: Das Problem an Facebook ist Facebook - als dysfunktionale Organisation; als Unternehmen, das auf Wachstum, Werbegeschäft und Willfährigkeit gegenüber Firmengründer Zuckerberg ausgerichtet ist.“
Facebook zeigt genau genommen zwei Grundsatzprobleme:
Problemkommunikation und strategische Empfehlungen, die den Willen des Chefs/Gründers erahnen sollen - und ihn so noch stärker von der Realität isolieren. Was wiederum Zuckerbergs CEO-Entscheidungen negativ beeinflusst.
Eindimensionaler Fokus auf bestimmte Kennzahlen (Nutzerwachstum, Umsatzwachstum, Verweildauer) im mittleren und höheren Management, wodurch einige Abteilungsleiter de facto Entscheidungen treffen, andere wiederum qua Struktur kalt gestellt sind.
Fleischgewordenes Beispiel für Letzteres ist Joel Kaplan, Facebooks republikanernahe Top-Lobbyist. Seine Haltung zum Umgang der Firma mit konservativen Alternativrealitäten folgte keinen Grundsätzen oder Beobachtungen in der Realität, sondern abstrahierte das Thema auf politische Überlegungen, Trumpisten nicht zu verärgern. Sein Wort galt bei Zuckerberg mehr als das derjenigen, die vor Radikalisierungen und Mobilisierungen rund um den Aufstand vom 6. Januar 2020 warnten.
Ein strukturelles Beispiel führte in der Konsequenz zum Whistleblowing von Frances Haugen: Im Dezember löste Facebook das “Civic Integrity Team“ auf (beziehungsweise ließ es laut Facebook in einem größeres Team aufgehen). Das Team, zu dem auch Haugen gehörte, sollte strukturelle Lösungen für Falschnachrichten und Polarisierung suchen.
Offensichtlich sah der Konzern allerdings nach der US-Präsidentschaftswahl keine Notwendigkeit mehr für seine Existenz (fairerweise muss man sagen, dass das Team auch einige umstrittene Entscheidungen traf). Medienberichten zufolge hatte es schon in den Monaten zuvor immer wieder Konflikte zwischen dem Management und dem Civic Integrity Team gegeben. Konkret wurden Vorschläge geblockt, sobald negativer Einfluss auf Reichweite und Verweildauer absehbar waren.
Die Grenzen des “Guten”
Wie bereits bei Googles Team für AI-Ethik gab es anscheinend auch in Facebooks Civic Integrity Team die Vorstellung, genügend Gewicht auf die Waage zu bringen, um im Zweifelsfall auch Entscheidungen herbeizuführen, die Firmenzielen und -kennzahlen widersprechen.
Diese Überschätzung der eigenen strategischen Rolle ist nicht nur ein schlichtes Zeichen von Naivität: Sie hängt meiner Meinung nach auch damit zusammen, dass die Tech-Konzerne auch in ihrer internen Kommunikation betonen, das Richtige tun zu wollen (das “Tech-for-Good-Dilemma”). Aber eben nur, solange es keine Änderung der strategischen Ziele bedeutet. Gerade, wenn man gerade auf dem Heimatmarkt USA enorm unter Druck ist.
Um nochmal meine Deutschlandfunk-Rezension zu zitieren:
“Dysfunktionale Strukturen, eindimensionale Manager, chronische Problemverdrängung: All das ist für viele Großunternehmen charakteristisch. Allerdings hat all das bei Facebook mit seinen fast drei Milliarden Nutzern fatale Folgen.”
Womit wir bei einem Kernproblem sind: Jeder Versuch, ein derart vernetztes Großgebilde mit technischen Mitteln zu beherrschen oder gar in Richtung Rationalität zu verändern, scheint mir zum Scheitern verurteilt.
Sicher: Eine Abkehr von der Verweildauer könnte womöglich positive Effekte haben, ebenso wie eine Rückkehr zum chronologischen Newsfeed. Aber Ersteres würde das Kerngeschäft gefährden, Letzteres käme zu spät für die bereits beschrittenen Wut- und Radikalisierungswege (die sich dann letztlich schlicht woanders fortsetzen würden).
Vielleicht klingt das defätistisch - das Beispiel Uber zeigt, dass man Krisen überwinden und von einem Antipathieträger zu einem vergleichsweise “normalen” Unternehmen werden kann. Der Facebook-Konzern allerdings ist nicht nur dysfunktional, er ist als Dienste-Anbieter schlicht zu groß, um funktionieren zu können.
In der Praxis führt das zu wachsendem Druck auf die Chefetage. Ich rechne damit, dass Mark Zuckerberg in den nächsten 12 bis 24 Monaten seinen Stuhl räumen und sich auf irgendeine Chair-Funktion zurückziehen wird, um eine Entflechtung seiner Firma zu verhindern. Die Grundproblematik ist damit jedoch noch nicht aufgelöst, auch wenn es bei oberflächlicher Betrachtung so erscheinen wird.
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Bis zur Ausgabe #21!
Johannes