Liebe Internet-Beobachtende,
vielen Dank fürs Öffnen, hier ist Ausgabe #18.
Thema der Woche: Menschliche Augen, digitale Systeme
Die App “Premise” hat einen simplen Zweck: Gig-Worker können für kleine Geldbeträge Aufgaben erledigen - Umfragen ausfüllen, Fotos machen oder im Supermarkt nachsehen, wie teuer die Milch dort gerade ist. Zum Beispiel für Marktforschung, sozialdemografische Analysen oder Location Scouting.
Oder für Spionage: Das WSJ berichtete jüngst, dass häufig Mikrodienstleistungen angefragt werden, deren Erkenntnisgewinn eindeutig für Geheimdienste oder sonstige interessierte Gruppen interessant sein könnten. Premise hat auch ”Mitarbeiter” in Gegenden, die für Fremde nur unter großem Aufwand zugänglich sind, zum Beispiel Jemen, Irak oder Syrien.
Ein Premise-Nutzer aus Afghanistan berichtet, wie er schiitische Moscheen im Westen von Kabul fotografieren sollte - dort wurden und werden regelmäßig Anschläge sunnitischer Islamisten verübt. Laut öffentlichen Daten hat Premise seit 2017 mindestens fünf Millionen Dollar vom US-Militär erhalten.
In einer Präsentation verweist das Startup darauf, dass Nutzer eben nicht nur aktiv Informationen sammeln. Durch die gewährten Zugriffsrechte der App sei das auch passiv möglich. Zum Beispiel die Kartierung von Wlan-Namen. Man könne dafür ja im Vordergrund Pseudo-Aufgaben wie das Fotografieren von Stromleitungen stellen, während im Hintergrund Daten gesammelt werden.
Diese Form von “Crowdsourced Intelligence” war mir neu. Sicher: Der Bereich überschneidet sich mit “Open Source Intelligence”, also Organisationen wie Bellingcat, die öffentlich zugängliche oder zugespielte Informationen gemeinsam (technisch) auswerten und so zu Erkenntnissen kommen. Im Fokus dort steht speziell der Nachweis bestimmter Militär- oder Sicherheitskräfte an bestimmten Orten zu einem bestimmten Zeitpunkt (Teil des relativ neuen Bereichs, den man ”Geospatial Intelligence” nennt).
Die Informationssammlung, die “Premise” ermöglicht, betrifft einen anderen Teil: Nämlich jene Daten, die eben nicht oder nicht in dieser Qualität zugänglich oder gar vorhanden sind. Was im Geo-Bereich gar nicht mehr so viele sind. Denn die Echtzeit-Kartographie der Welt ist weit vorangeschritten: Hochauflösend durch technisch hochgerüstete Spionage-Satelliten, kommerziell zugänglich durch eine wachsende Zahl privater Satellitenfirmen.
Aber der Blick von “Google Maps” ist eben nicht der Blick von “Street View”; auf der Zeitachse aufgereiht zeigen die Luftaufnahmen Topographie und Bewegungen, die Straßenbilder örtliche Zustände und Detailansichten der topographischen Umgebung.
Ohne zu viel zu spekulieren: die gegenwärtigen Trends im Geheimdienstwesen lassen es möglich erscheinen, dass die Fotos der Gig-Worker nicht konkreten Projekten dienen, sondern sie ergänzende Informationen für eine Art 3-D-Mapping-Datenbank liefern. Denn de facto modernisieren die führenden Geheimdienste weltweit gerade ihre Datenanalyse mit selbstlernender Software, die solche Informationen gut verarbeiten kann.
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass andere Akteure (ob nun Terror- oder sonstige politische Gruppen) Premise nutzen. Das wäre ein Zeichen für eine weitere Demokratisierung oder Proliferation der Informationssammlung, die einst nur Geheimdiensten zur Verfügung standen.
Was das für Spionage und Gegenspionage, aber auch für die daran angeschlossenen Informationsmärkte bedeutet, erscheint mir schwer zu prognostizieren. Wie so oft, wenn es um langfristige Konsequenzen der digitalen Vernetzung geht, lässt sich nur eine wachsende Unübersichtlichkeit feststellen.
Womöglich aber sind Dienste wie Premise auch nur ein kurzfristiges Phänomen. Weil bestimmte Dienstleistungen dort verboten oder von den US-Behörden zu Honeypots umfunktioniert werden. Oder, weil es sich um die typische menschliche Grundlagenarbeit auf der Computer-Vorstufe handelt.
Dabei denke ich zum Beispiel die Data-Labelling-Firmen, die Datensätze für die Auswertung durch AI prüfen und standardisieren. Selbst die Gig-/Clickworker-Tangente ist nicht neu: Ende der Nullerjahre nutzten Forscher der University of Illinois Urbana-Champaign Amazons Plattform Mechanical Turk, um Internet-Bildern Substantive zuzuordnen. Die Vorarbeit für eine computerisierte Objekterkennung.
Die daraus entstandene Datenbank Imagenet mit ihren 3,2 Millionen Bildern wurde zum gefragten Bilderkennungs-Trainingsmaterial für das, was wir “Künstliche Intelligenz” nennen (nützliches Digitalpartywissen: ein Teil der Probleme rund um rassistische Bilderkennung stammt von damals, genauer gesagt aus der Verwendung der Semantik-Datenbank WordNet, die in den Achtzigern erstellt wurde).
Vor einigen Jahren wurde “Künstliche Intelligenz” mit der Metapher “Computer bekommen Augen” umschrieben. Noch sehen Computer ohne die Unterstützung menschlicher Augen oft nicht klar genug. Doch wenn etwas noch nicht ausreichend maschinenlesbar ist, bedeutet das, um Nicholas Carr zu zitieren: Optimierungsbedarf. Und ob in der Datensatz-Beschriftung oder der Spionage: Im Hintergrund wird sicher gerade fieberhaft daran gearbeitet, den menschlichen Faktor überflüssig zu machen.
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#Überwachung Analysten der NSA sammeln mittels des Überwachungsprogramms XKeyscore immer wieder Daten von Amerikanern ein und werden dabei zu wenig kontrolliert. Das wirft Travis LeBlanc in einem zehnseitigen Bericht dem Kontrollorgan “Privacy and Civil Liberties Oversight Board” vor, dessen Mitglied er ist. Zudem werde nicht ausreichend geprüft, wie und wofür Künstliche Intelligenz bei der Datenauswertung zum Einsatz kommt.
#Verschlüsselungsdebatte Das FBI hat über Jahre hinweg eine Hintertür zur Kommunikations-App Anom genutzt, um mutmaßliche Kriminelle zu überwachen. Das Wissen führte nach Behördenangaben zu Hunderten Verhaftungen und der Beschlagnahmung von 32 Tonnen Drogen. In Deutschland laufen zahlreiche ähnliche Verfahren, nachdem französische Ermittler in die Chatsoftware Encrochat eindringen konnten. Das Berliner Landgericht hat als erstes deutsches Gericht abgelehnt, Beweise aus diesen Chats zuzulassen. Ob die Beweissammlung in Frankreich selbst rechtens war, entscheidet dort wohl das Oberste Gericht.
#Ransomware Die Hackergruppe REvil hat mit einem Lieferketten-Angriff zahlreiche Firmen lahmgelegt, die direkt oder über Dienstleister-Pakete die IT-Updatesoftware Kaseya nutzen. Wenige Tage nach einer Lösegeldforderung von 70 Millionen Dollar für den Generalschlüssel verschwanden alle REvil-Seiten überraschend aus dem Netz. REvil wird in Russland vermutet, zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden den russischen Präsidenten Wladimir Putin dazu aufgefordert, stärker gegen russische Cybercrime-Gruppen vorzugehen.
#Geopolitik China geht immer stärker gegen einheimische Tech-Firmen vor, die Börsengänge im Ausland planen oder bereits vollzogen haben - sehr zur Sorge ausländischer Investoren. Letztes Beispiel: der Ridehailing-Dienst Didi.
#Telegram Das Bundesamt für Justiz geht gegen Telegram vor, weil die Plattform keine Beschwerdemöglichkeiten gegen “Hassrede” nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz zur Verfügung stellt. Das Amt hatte Telegram lange als Messenger betrachtet, für den das NetzDG nicht gilt.
#Aufmerksamkeitsökonomie TikTok hat unter amerikanischen Android-Nutzern Facebook, Netflix und Youtube bei der Nutzungszeit überholt. Durchschnittlich verbringen amerikanische Android-Nutzer im Moment 24,5 Stunden pro Monat bei TikTok.
Linktipp
The Increasingly Uneven Race To 3nm/2nm
Komplizierter, ausschweifender und doch lohnender Text über das Wettrennen in Richtung immer kleinerer Halbleiter-Technologieknoten (und die Frage, welche Rolle die System-Integration spielt).
Bis zu Ausgabe #19!
Johannes