Aus dem Internet-Observatorium #105
Mehr Demokratie für unsere Online-Lebenswelt - ein Interview mit Nathan Schneider
Hallo zu einer neuen Ausgabe! Weil nicht allzu viel Aktuelles passiert ist in den vergangenen Tagen, stelle ich hier ein Interview ein, das ich im Frühsommer mit Nathan Schneider geführt habe. In der kommenden Woche entfällt das Internet-Observatorium, Ihr lest von mir wieder im September hier.
Nathan Schneider ist ehemaliger Journalist und Assistenzprofessor für Medienwissenschaften an der University of Colorado in Boulder - er beschäftigt sich mit Genossenschaftswirtschaft sowie demokratischen Modellen für Online-Plattformen. Letztere sind Thema seines neuen Buchs “Governable Spaces”, das ich als Perspektivwechsel sehr empfehlen kann. Hier das gekürzte, auf Klarheit bearbeitete und übersetzte Interview.
Nathan Schneider, um was geht es in Ihrem Buch “Governable Spaces”?
Schneider: Es geht um die Demokratie - und das Fehlen demokratischer Strukturen in unserem digitalen Alltag. Es geht um die Erkenntnis, dass wir Demokratie im Großen nur praktizieren können, wenn wir das auch in unserem Alltag tun. Und in ganz vielen Aspekten sind die Orte, an denen wir uns im Internet treffen, dafür nicht entworfen worden. Und im Buch versuche ich herauszufinden, wie es dazu kam, was die Folgen sind und wie wir unsere Online-Räume neu gestalten könnten - und damit am Ende auch eine Online-Ökonomie entwickeln, die auf demokratische Praktiken fußt.
Eine Grundannahme, auf der Ihr Buch basiert, ist die Erkenntnis, das wir in einem Zeitalter des “digitalen Feudalismus” leben. Wie konnte es so weit kommen?
Diese Vorstellung von „Feudalismus“ ist ja eine Art fiktionaler Karikatur des Mittelalters, die inzwischen auf Tech-Konzerne angewendet wird. Mir geht es aber um etwas anderes: Nämlich dass wir, wenn wir über Machtgefüge in der Online-Ökonomie sprechen, das Offensichtliche übersehen. Ob das eine Facebook-Gruppe oder ein Subreddit ist oder ein Gruppenchat - all diese Räume sind nach einer Logik entworfen, die ich “stillschweigender Feudalismus” [“implicit feudalism”, JK] nenne. Nämlich die Machtkonzentration in den Händen von Administratoren und Moderatoren.
Womit haben Sie konkret ein Problem?
Vergessen wir für einen Moment einmal die Firmen dahinter, sondern blicken nur auf die Räume, in denen wir uns mit Menschen austauschen: Die dort vorhandenen Funktionen verleiten uns dazu, trainieren uns, absolute Macht in die Hände von einigen wenigen Menschen zu geben, die uns gegenüber nicht wirklich Rechenschaft ablegen müssen. Diese sehr starre Struktur zieht sich wirklich durch fast alle Online-Räume. Die Logik der Administratoren und Moderatoren ist also allgegenwärtig, aber zugleich versteckt, weil wir diese Räume mit der Vorstellung betreten, dass sie demokratisch sind. Das sind sie aber nicht.
Man könnte allerdings entgegnen, dass sich dieses Prinzip über die Jahrzehnte bewährt hat.
Richtig, die Ursprünge liegen weit vor den Tech-Konzernen. Online-Netzwerke befanden sich oft auf einem Server, der bei irgendwem im Haus rumstand. Der Top-Down-Ansatz hat sich damals bewährt, aber wir sind da niemals herausgewachsen. Ich erinnere mich noch daran: Als ich eine dieser Online-Communitys organisierte, hörte ich meine Mutter etwas von ihrem Gartenverein erzählen. Und bei mir blieb hängen, wie ausgefeilt die Governance-Struktur dieses Vereins war im Vergleich zu all den Online-Räumen, in denen ich mich immer aufgehalten habe. Denn dort fehlte jede Form von Alltagsdemokratie, so etwas wie Wahlen oder manchmal auch schlicht die Existenz von Grundregeln, an die sich auch die Entscheidungsträger halten müssen.
Gab es in dieser Frühphase erfolgreiche Modelle, die Ihrem Ideal entsprachen?
Es gab diese Online-Community mit dem Namen LambdaMOO. Komplett textbasiert, aber mit sehr lebendigen Beschreibungen - die Räume waren einem Haus nachempfunden und man konnte sich dort frei bewegen. LambdaMOO wurde in den Neunzigern bekannt, weil in einem Artikel der Village Voice über einen sexuellen Übergriff berichtet wurde, der sich dort ereignet hatte. Die Community war sehr engagiert und überlegte sich, wie man mit solchen Leuten umgeht. Und so entwickelten sie eine Art Abstimmungsmechanismus, in dem man über bestimmte Regeln und Grundsätze entscheiden konnte. Sie erreichten also den Punkt, an dem sie sagten: Okay, lass uns einen demokratischen Prozess entwickeln, um unsere Probleme zu lösen. Abstimmungen sind nicht die einzige Form, aber sie sind eine Möglichkeit dafür.
Warum setzte sich das nicht durch?
In diesem Fall lag es daran, dass LambdaMOO bei Bell Labs gehostet wurde - der Forschungsabteilung von AT&T. Und dort merkte man: Huch, dieser Server steht ja bei uns und wir sind rechtlich verantwortlich dafür, was passiert. Und so gab man sich die uneingeschränkte Veto-Macht. Es liegt an der Struktur von Online-Netzwerken, die auf Server aufbauen, dass wir immer wieder an diesem Punkt landen. Wer den Server hat, kann den Stecker ziehen oder hat in unserem Rechtssystem die Verantwortung für das, was passiert. Es existiert also ein Zusammenspiel von technischem Design, Struktur unseres Rechts und von Firmenstrukturen, das kollektive Selbstverwaltung in diesen Räumen sehr schwierig macht.
…weshalb Sie die Blockchain als einen Lösungsweg sehen. Immer noch?
Bei all den irren und schlimmen Sachen, die im Kontext Blockchain und Cryptowährungen passiert sind: Es hat sich zumindest eine Tür geöffnet, kollektive Governance konkret umzusetzen. Es sind so viele Ideen, auch Geld in neue Governance-Systeme geflossen wie nie zuvor. Weil es eben nicht den einen Server gibt, von dem die Kontrollmöglichkeit ausgeht. Für mich bedeutet das: Wenn Du das Design eines Netzwerks änderst, denkst Du auch darüber nach, wie Du das System als Ganzes, sogar die Ökonomie dahinter umstricken kannst. Die Blockchain war für mich immer eine zwiespältige Angelegenheit - aber ich glaube, diejenigen, die die Technologie wegen einer ihrer Verwendungsmöglichkeiten gleich abschreiben, sollten einen zweiten Blick riskieren. Es gibt auch andere Einsatzmöglichkeiten.
Können Protokolle wirklich Verantwortlichkeiten schaffen?
Ich glaube, es ist zumindest eine sehr interessante Frage, wie das funktionieren kann. Meiner Meinung nach müssen wir Protokolle als Policy und Politik betrachten. Ich habe in der Crypto-Welt von Anfang an darauf bestanden, dass Protokoll-Design am Ende auch Policy-Design ist. In der Community wird so etwas oft mit Zurückhaltung aufgenommen, weil man sagt “Nein, wir bauen ja ein neutrales Netzwerk”. Nein, Du entwickelst ein Regelwerk. Wenn wir Protokolle bauen, die ein neues Finanzsystem werden sollen, müssen wir die Verantwortung dafür übernehmen, dass es Mitsprache gibt und Verantwortlichkeit gegenüber den Menschen, die sie benutzen. Und dafür, dass sie bestimmte Rechte schützen, die notwendig sind, damit es ein lebenswertes Umfeld ist. Aber natürlich wird eine solche Verantwortung oft vermieden. Und wenn etwas schiefgeht, rennen die Leute aus dieser neuen Welt zu den Gerichten des vorherigen Systems und sagen “Bitte räumt doch dieses Durcheinander auf!”. Viel seltener sind Menschen, die sagen: “Okay, lasst uns eine Infrastruktur aufbauen, auf deren Basis so etwas nie mehr passieren kann.”
Was halten Sie vom europäischen Ansatz: Tech-Firmen müssen sich an Regeln halten, wie sie mit illegalen Inhalten umgehen, die richtigen Werkzeuge nutzen, genug Menschen, die für Moderationsentscheidungen die entsprechende Sprache sprechen. Geht das in die richtige Richtung?
Das ist ein Schritt vor und ein Schritt zurück. Einerseits ist es wichtig, den Tech-Leviathanen Regeln zu geben. Aber die Gefahr ist, dass es eine Form von Top-Down-Machtverteilung zementiert. Man reguliert die Tech-Konzerne, anstatt Frameworks zu entwickeln, die einen anderen Ansatz verfolgen und so etwas wie Selbstverwaltung für Communitys ermöglichen. Da finde ich einen anderen Aspekt der europäischen Digitalpolitik spannender, nämlich die Investition in Open-Source-Software. So etwas wie Nextcloud als Alternative zu Google Cloud. Ich bin in einer Genossenschaft, die Nextcloud benutzt und so ihre Daten gemeinsam und unabhängig selbst verwalten kann. Wir profitieren also von einer Investition der deutschen Regierung. So etwas, oder auch so etwas wie Mastodon - davon brauchen wir mehr.
Was stimmt Sie hoffnungsfroh und was macht sie pessimistisch, dass Ihre Utopie von demokratischeren Online-Strukturen Realität werden kann?
Beginnen wir mit dem, was mich pessimistisch macht: Ich glaube, nach Jahrzehnten des “stillschweigenden Feudalismus” haben sich viele von uns daran gewöhnt, dass jemand anderes verantwortlich sein soll. Wir sehen das in unseren Online-Netzwerken, wir sehen es in der Politik. Die Menschen sind fixiert darauf, ob sie für oder gegen Elon Musk sind. Ob dafür oder dagegen, sie sind dazu gezwungen, sich mit einem bestimmten Milliardär auseinanderzusetzen. Oder im Politischen: Wir glauben, weil zum Beispiel Tech-Firmen erfolreich von einem einzigen Menschen geführt werden, könnte man das ja auf die Politik übertragen, die damit eine autoritäre Form annimmt. Dieser Verlust an demokratischer Vorstellungskraft, das macht mir wirklich Sorgen. Wissen Sie: Ich interessiere mich für Demokratie und Demokratisierung, weil ich als Teenager ein paar gute Erfahrungen machen durfte, zu konkreter Veränderung von Politik beigetragen zu haben. Ich habe erlebt, dass es funktioniert. Und ich mache mir Sorgen, dass zu viele Menschen das nicht erleben - in ihrem Sozialleben nicht und auch nicht in ihrem Leben als Teil von Communitys.
Und woraus speist sich Ihre Hoffnung?
Was mir Hoffnung macht, sind die Ansätze, die ich sehe - oft im Umfeld von sozialen Bewegungen, manchmal auch in Tech-Communitys. In dieser chaotischen, manchmal betrügerischen Welt der Blockchain zum Beispiel entwickeln Menschen einige wirklich kreative und interessante Sachen, um Selbstverwaltung digital neu zu erfinden. Ich bin durch mein Buch auch Teil dieser Community, die sich Metagov nennt. Dort sind so viele Menschen, die neue Identitätssysteme, neue Wahlsysteme, alternative Schlichtungssysteme entwickeln - einfach andere Formen, durch die Menschen teilhaben und ihrer Stimme Ausdruck verleihen können. Diese Experimente machen mir Hoffnung und motivieren mich. Trotz der Schlagzeilen, wonach das Vertrauen in die Demokratie weltweit zu schrumpfen scheint.
Bis zur nächsten Ausgabe im September!
Johannes