Aus dem Internet-Observatorium #100
Wie das Internet erwachsen wurde (und ich es nicht bemerkte)
Hallo zur Ausgabe Nr. 100! Eigentlich habe ich deutlich mehr Newsletter verschickt, aber ich zähle erst seit einiger Zeit alle Ausgaben mit. Deshalb an dieser Stelle, dem Anlass entsprechend, ein etwas persönlicheres Essay. Und ein Programmhinweis: In den nächsten ein, zwei Wochen kann es sein, dass das Internet-Observatorium aus Freizeitgründen ausfällt.
Wie das Internet erwachsen wurde (und ich es nicht bemerkte)
Es muss ungefähr 1996 gewesen sein, als ich das erste Mal “online” ging. “Online”, das war damals zunächst die Oberfläche von “T-Online Classic”, der hauseigenen Telekom-Weiterentwicklung von btx. Wobei es irgendwie noch wie btx aussah, denn die Rubriken hatten Zahlen vorne dran.
Interessanter als die Nachrichten waren allerdings die nach Interessen gegliederten Chaträume, in denen Teenager wie ich andere Teenager und sonstige Menschen trafen, die nur als Text lebten, aber woanders wirklich existierten. Leute aus Bochum oder Schleswig-Holstein oder Leipzig. Die Gespräche unter Fremden waren banal, aber irgendwie faszinierend und länglich und die Telekom freute sich über die minutengenaue Abrechnung dieser Sonderdienste.
Und dann gab es noch die Weltkugel, der Weg ins WWW, wie ich bald lernen sollte. Eine zähe Angelegenheit war das damals, vor allem, sobald jpgs im Spiel waren. Aber Webringe, Suchmaschinen (“Fireball”), Rotten.com, Geocities-Seiten, unübersichtliche Online-Diskussionsforen - das war irgendwie schräg, nerdig und nichts, was man irgendwann dem Mainstream zumuten konnte.
In meine erste E-Mail-Adresse trug ich noch Vornamen, Nachnamen und den Namen meines Dorfes ein - denn wie sonst sollte jemand wissen, wie genau man mich erreichen kann?
Das alles war also neu und verwirrend und interessant (und langsam). Ein neues Medium, aber sicher nicht integraler Bestandteil meines Lebens.
Das änderte sich zehn Jahre später: Es muss 2006 gewesen sein, als ich das Internet erstmals als wirklichen Raum, quasi als Möglichkeitsraum erkannte. Die Idee des Crowdsourcings hatte mich angefixt. Ein Konzept, das gewissermaßen einen Gesellschaftsentwurf verkörperte: Eine Gesellschaft, in der Menschen gemeinsam Informationen teilen und Probleme lösen. Alles würde anders, vielleicht schlauer, wahrscheinlich besser werden - inklusive des Journalismus.
Was ich damals noch nicht wusste: Diese Zeit war nicht der Anfang, sondern bereits das Ende jener Phase der Internetkultur, für die ich mich zu interessieren begann. Crowdsourcing gehörte, wie auch Blogs, geistesgeschichtlich noch zur vorkommerziellen Ära des WWW. “Spekulativ” waren hier, anders als zwischendurch in der Dotcom-Zeit, noch die kommunikativen und damit auch gesellschaftlichen Entwürfe.
Heute lösen diese Erinnerungen unterschiedliche Gefühle aus: Ich bin einerseits froh, weitestgehend in der vordigitalen Welt aufgewachsen zu sein, weiß es aber durchaus zu schätzen, trotzdem vom WWW früh etwas mitbekommen zu haben.
Mein Web-Idealismus der Nullerjahre dagegen löst zwiespältige Gefühle in mir aus. Einerseits gehört es unbedingt zu meiner Sozialisation, das Netz noch aus einer utopischen Perspektive kennengelernt zu haben. Aber genau dieser Idealismus, diese Idealisierung hat wahrscheinlich den Blick auf andere Entwicklungen verstellt.
Denn quasi zur gleichen Zeit von Barcamps, Blogs und Webmontagen fanden 2006/2007 drei zentrale Weichenstellungen in der Geschichte der Digitalisierung statt:
Im September 2006 öffnete Facebook seinen Dienst für alle, die eine gültige E-Mail-Adresse angaben. Im selben Monat führte Facebook den (damals umstrittenen) Newsfeed ein. Das war eine Abkehr von der profilzentrierten Strategie, wie sie zum Beispiel auch MySpace verfolgte. Und vielleicht der Beginn von Social Media, wie wir es kennen.
Am 9. Januar 2007 stellte Steve Jobs das erste iPhone vor. Der Beginn des Smartphone-Zeitalters.
Und im April 2007 kaufte Google Doubleclick, den seinerzeit besten Anbieter für die Kombination aus Cookie-Tracking und Echtzeit-Werbeplatzauktionen. Ein Meilenstein in der Entwicklung des Systems, das heute gerne als “Überwachungskapitalismus” bezeichnet wird.
Es ist nicht so, dass diese Entwicklungen nicht präsent waren oder keine Rolle spielten. Aber sie waren als Kommerzialisierungsdebatten zunächst meiner Erinnerung nach nur ein Diskursstrang von vielen. Und zwar ein eher untergeordneter.
Denn was die Leute aus dem Silicon Valley mit den anderen Nullerjahre-Internetleuten damals gemeinsam hatten, war die Überzeugung, dass das alles ziemlich groß wird. Und daran gab es ja, gerade in Deutschland, politische, wirtschaftliche und feuilletonistische (lol) Zweifel. Der Hauptkonflikt wurde damals über die Fragepole “Geht das Internet wieder weg?” und“Wird das Internet alles verändern?” ausgetragen.
Aus heutiger Sicht lässt sich vielleicht sagen: Der Optimismus in Sachen-Internetentwicklung hat sich bewahrheitet, die Digitalisierung hat alles verändert und wird alles weiter verändern. Und ja, andere Menschen und auch ich haben mit Recht und sehr früh darauf hingewiesen, dass Deutschland sich diesem Thema zu spät stellt. Und zu inkonsequent, immer noch.
Und doch lässt sich aus heutiger Sicht wahrscheinlich sagen: Auch der Pessimismus in Sachen Internet-Entwicklung hat sich bewahrheitet. Dass es vielleicht doch keine so gute Idee war, alle Menschen (und absehbar fast alle Dinge) auf der Welt miteinander digital zu verbinden. Zumindest nicht unter diesen Bedingungen.
Bedingungen ergeben sich aus Produktionsverhältnissen, wie bereits Marx wusste. Und die lauten, entschuldigt die fehlende Originalität des Gedankens: Den Mehrwert schöpfen die großen Tech-Firmen ab.
Die Datenschutzdebatten trugen dem in den Zehnerjahren erstmals Rechnung. Deutschland nahm seinerzeit ja durchaus eine Vorreiterrolle ein. Dennoch wurde “ein anderes Internet”, das sich eher an den Idealen des Web 1.0 statt am Massengeschäft des Web 2.0 orientiert, nie auch nur annähernd Realität oder unter realistischen Bedingungen diskutiert. Irgendwann dann sogar nicht einmal mehr in Gedankenspielen.
Denn die Diskussionen über die Frage, wohin sich das Internet entwickelt, war spätestens mit dem proprietären App-Zeitalter immer stärker von defensiver Natur. Allerdings ohne eine wirkliche Durchdringung, wie den durch die durch Digitalkonzerne geschaffenen Fakten und Infrastrukturen beizukommen wäre. Vielleicht aus dem naiven Glauben, dass es ja immerhin noch “unser” Internet war. Vielleicht auch nur aus purer Machtlosigkeit.
Nicht, dass nichts passiert wäre. Doch wenig symbolisiert die Kombination aus ungefährer Problemerkennung und begrenztem Einfluss mehr als die Tatsache, dass im Zuge der Datenschutzgrundverordnung zwar Cookie-Vorschaltbanner vor jeder Website platziert werden, wir in Europa aber weiterhin überhaupt keinen Einblick haben, welche Verhaltensdetails und Datenpunkte Meta jetzt genau mit seinen Diensten von uns sammelt und katalogisiert.
“Ein anderes Internet ist möglich”: Dieser Satz war im Zuge autoritärer Bedrohungen schon immer auch eine Drohung. Seit 2016 hat er aber auch in einem anderen Sinne als wahr herausgestellt: Spätestens damals begann das Web 2.0, sich in nicht unerheblichen Teilen zur Kulturkampf-Maschine zu verwandeln. Und acht Jahre später stehe ich in den Trümmern der früherer Social-Media-Landschaften, blicke auf elfenbeinfarbige Bibliotheken voll mit Internet-Regulierungswerken und fühle mich umzingelt von den Stammesarmeen der Überzeugten.
Dieser Ausschnitt ist sicher nicht die finale Version des Internets, vielleicht sehe auch ich sie nur so durch die schmerzenden Augen eines ehemaligen Idealisten. Und doch nehme ich auch bei anderen eine gewisse Sprachlosigkeit wahr. Eigentlich führen wir schon seit Jahren eine Auseinandersetzung mit dem Netz, die sich weitestgehend in Kritik, Parolen und Folk Politics erschöpft (dieser Text ist Ausdruck davon).
Und ich sehe den mühsamen und oft eindimensionalen Versuch von Juristen, Code mit den Mitteln des Rechts zu unterwerfen und den schamlosen wie eindimensionalen Versuch von GAFTA, Crypto und Co., das Recht mit den Mitteln des Codes zu unterwerfen.
Sieht so das Internet aus, wenn es erwachsen geworden ist? Und finde ich, finden wir im Moment überhaupt noch einen Platz darin, der bei genauerem Hinsehen über die Rolle von “Content Creators”, “Content Consumers” und Datenpunkt-Erzeugern hinausgeht?
Ich habe mich schon lange damit arrangiert, dass das Internet kein Möglichkeitsraum (mehr) ist. Aber, und das klingt naiv, aber ist relevanter: Wenn das Internet 2024 unsere gesellschaftliche, verhaltenspsychologische und interpersonale Zukunft andeutet, denke ich mir oft: es sollte es besser kein integraler Bestandteil meines Lebens mehr sein.
Links
EU-Kommission: Metas Pay or Consent ist nicht okay.
APT29/Cozy Bear knacken Teamviewer.
Brasiliens Datenschutzbehörde setzt Meta-Trainingsdatenregelung außer Kraft.
Bundesgerichtshof: Künstliche Intelligenz kann nicht als Patent-Erfinder eingetragen werden.
Innenministerkonferenz kritisiert geplante Überwachungsgesamtrechnung.
Metas Oversight Board wird immer irrelevanter. ($)
VW: Software-Hilfe und Vorstands-Umbau bei CARIAD. (€)
Die Botschaft der Musiklabel-Klagen: Hochqualitative Trainingsdaten gibt es nicht umsonst.
Social Media: Renaissance des Handwerks.
Cloud-Computing: Schlechte Aussichten?
Bis zur nächsten Ausgabe!
Johannes