Liebe Internet-Beobachtende,
der vielleicht letzte Jahresrückblick, der dieses Jahr in die Inbox flattert. Ich nehme hier ja meist “das Internet” in EU, USA und China in den Blick. Grund genug, in dieser Ausgabe den Blick etwas zu weiten.
Thema der Woche: Das Internet anderswo 2020
Es ist unmöglich, sich einen Überblick über Digital-Entwicklungen weltweit zu verschaffen. Ich konzentriere mich deshalb auf die Themen Covid-19, Internet-Freiheit und Mobile - selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Covid-19
Am Thema Covid-19 komme ich dabei natürlich nicht vorbei. Die Digitalmaßnahmen in Asien fanden in Deutschland ja große, wenn auch oberflächliche Aufmerksamkeit. Was wurde wirklich digital gemacht? Ein paar Beispiele:
Taiwan und Hongkong verwenden digitales Quarantäne-Geofencing.
Südkorea greift bei der Kontaktverfolgung auf Datenpools wie Überwachungskameras oder Kreditkartendaten zurück. Dabei ist man allerdings davon abhängig, diese auch händisch auswerten zu können, was nur bei geringen Fallzahlen geht. Und, oft unerwähnt, die verwendeten Daten müssen nach dem Abschluss der Kontaktverfolgung gelöscht werden.
Singapur hat mit “Trace Together” die wohl (gemessen an Download-Quoten) erfolgreichste Kontaktverfolgungs-App der Welt. 70 Prozent der Bevölkerung haben sie inzwischen heruntergeladen. Ein Grund ist sicherlich: Zunächst wurden nur Gastarbeiter zur Nutzung der Tracing-App verpflichtet, inzwischen gilt die App-Pflicht für alle Besucher von Kinos, Einkaufszentren, Büros, Schulen oder Restaurants.
Sri Lanka wiederum lässt das Militär Daten zur Kontaktverfolgung auswerten, was angesichts der dortigen Geschichte problematisch ist.
Unter dem Strich ist das Bild eben sehr viel differenzierter als der chinesische Ansatz von Gesundheitscode-Apps, die Daten mit den Sicherheitsbehörden teilen. Und wer in deutschen Medien “Weniger Datenschutz macht die Corona-Warn-App besser, guckt doch nach Asien” sagt, ist gleich doppelt uninformiert.
Internet-Freiheit
Freedom House kommt in seinem jährlichen Bericht zur Internetfreiheit zu dem Fazit, dass Länder weltweit Covid-19 zum Anlass nehmen, die digitale Überwachung auszudehnen und biometrische Verfahren wie digitale Gesichtserkennung voranzutreiben (Hongkong zeigt letztlich das Endspiel, wenn es um Protest und Paranoia unter möglicher biometrischen Digitalüberwachung geht)
Zugleich aber werde die Pandemie zum Anlass genommen, gegen “Fake News” vorzugehen und dabei im Zweifel auch missliebige Meinungen zu unterdrücken - zum Beispiel in Ruanda, Simbabwe oder Thailand.
Ein weiterer Trend der sich fortsetzte: Landesweite oder regionale Internet-Blockaden während Anti-Regierungs-Protesten. Beispiel Thailand: Während der Demonstrationen gegen den König blockierte der Staat Tausende Webseiten und Social-Media-Accounts, darunter auch Tinder-Profile.
Die Marktkonzentration der digitalen Dienste führt inzwischen dazu, dass komplette Drosselungen und Abschaltungen (wie zum Beispiel in Kaschmir) gar nicht mehr notwendig sind. Häufig genügt es, Kommunikationssoftware wie WhatsApp zu blockieren um das digitale Äquivalent zur gekappten Telefonleitung zu erreichen.
Auf der anderen Seite ist WhatsApp ein Werkzeug zur dualen Nutzung - das vielleicht eindrücklichste Beispiel 2020 sind die Bürgerwehren von Hindunationalisten, die sich dort organisieren. Ohnehin scheint mir Indien das Land zu sein, in dem WhatsApp am konsequentesten zum politischen Betriebssystem geworden ist - mit gruseligen Folgen.
Mobiles Internet
Jenseits Fragen der Internet-Freiheit setzen sich die bekannten Trends fort: Der Siegeszug des mobilen Internets und angeschlossener Dienstleistungen wie Mobile Payments.
Schätzungen zufolge sind auf dem afrikanischen Kontinent 2020 erstmals mehr als eine halbe Milliarde Mobiler Geldkonten online (mehr als die Hälfte davon in Ostafrika). M-Pesa aus Kenia, das älteste und weiterhin bekannteste System, macht inzwischen ein Drittel des Umsatzes aus, den der Mobilfunkanbieter Safaricom aus.
2020 war das Jahr, in dem sich das Interesse westlicher Finanzdienstleister am afrikanischen Markt in Form von zwei größeren Akquisen zeigte: Stripe kaufte den nigerianischen Anbieter Paystack, der britische Geldtransfer-Anbieter Worldremit seinen digitalen Zwilling Sendwave (der allerdings ohnehin ein Bostoner Unternehmen ist).
Mobiles Internet II: Quo Vadis, Super-Apps?
Von der Payment-App zur Super-App müsste es nur ein kurzer Weg sein, könnte man meinen. Super-Apps sind mobile Plattformen nach dem chinesischen WeChat- und Alipay-Vorbild: Sie integrieren verschiedene Dienstleistungen und Marktplätze, um letztlich das “Schweizer Taschenmesser” auf dem Handy zu sein, also “die eine App, die fast alles (an kommerziellen Aktivitäten) erledigen kann”. Hier der klassische Weg (Graik via Afridigest):
In Afrika hat sich hier noch kein Favorit herausgebildet, was auch der Fragmentierung der Märkte geschuldet sein dürfte, die noch extremer als in Europa ist. In Lateinamerika hat sich die kolumbianische App Rappi, die von VC-Geld aus Kalifornien angetrieben ist, von einem Essenslieferanten zu einer vertikalen App für Geldtransfers, Veranstaltungstickets, Reisebuchungen oder Telemedizin entwickelt. Rappi ist auf allen wichtigen Märkten der Region aktiv.
Unter dem Strich bleiben Super-Apps aber derzeit ein vorwiegend asiatisches Phänomen. Und eines, in dem sich ein Winner-Takes-It-All-Szenario andeutet: Grab (Singapur) und Gojek (Indonesien), die beiden wichtigsten Super-Apps außerhalb Chinas, verhandeln seit einiger Zeit über eine Fusion.
Kuba (weil ich es spannend finde)
Zum Schluss noch ein Blick auf Kuba, dessen digitale Entwicklung ich seit einem Besuch vor einigen Jahren mit großem Interesse verfolge: Dort hat die Regierung begonnen, das Mesh-Netzwerk SNET (eine Art Community-Netz/Intranet) unter der Aufsicht des staatlichen “Joven Club” (Jugend-Computer-Club) zu zentralisieren. Wie stark die dort ausgeübte Kontrolle und Überwachung ausfallen wird, kann ich nicht seriös bewerten.
Linktipp: Wer regelmäßig mehr aus dem “Internet anderswo” erfahren möchte, sollte unbedingt einen Blick auf Rest of the World werfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und den Platz in der Inbox - ich wünsche allen ein gesundes und positives Jahr 2021!
Johannes