Liebe Internet-Beobachtende,
diese Woche ein Blick in die Mühen der Ebene - deutsche Digitalpolitik. Ich freue mich über Hinweise, Feedback, Kritik, Weiterempfehlungen etc.
Thema der Woche: Deutschland und die digitale Transformation
Digitalgipfel sind angenehme Veranstaltungen, zumindest für die Teilnehmer: Die Minister- und Staatssekretärsriege kann große Pläne verkünden - oder zumindest Besserung geloben. Ihr gegenüber sitzen Experten und Expertinnen aus Wissenschaft, Praxis und Firmen, die auf ein gutes Verhältnis zur Bundesregierung wert legen. Die Kritik fällt entsprechend dezent aus.
So war es auch diese Woche und die Beobachtung ist auch in meinen Deutschlandfunk-Kommentar eingeflossen. Ich will aber nochmal ausführlicher als in 2:45 Minuten skizzieren, warum die digitale Transformation Deutschland lange so problembehaftet und zaghaft angegangen wurde.
Politik und Wirtschaft sind dabei nur schwer zu trennen. Die Behaglichkeit, mit der sich die Deutschland AG im linearen Status Quo bequem gemacht hatte, spiegelte sich natürlich auch in den Merkel-Regierungen. Tatsächlich verfolgte die Kanzlerin nie eine gesellschaftliche Idee und bearbeitete in der Regel Symptome statt Ursachen. Und dieses “Fahren auf Sicht” verbindet sie mit fast allen Dax-Vorständen der vergangenen 15 Jahre.
Das waren keine guten Voraussetzungen für die digitale Transformation, sondern führte eher zu Versuchen, Branchen und Geschäftsmodelle vor neuer Konkurrenz zu schützen. Dazu kommen beim Breitband- und Mobilfunk-Ausbau häufig Entscheidungen nach Konzernwünschen, am offensichtlichsten bei der Vectoring-Erlaubnis für den Telekom-Breitbandausbau.
Ich denke auch manchmal zurück an die Rüttgers-Kampagne “Kinder statt Inder” aus dem Jahr 2000: eine Haltung, die damals sehr verbreitet war. Das rot-grüne Zuwanderungsgesetz 2004 war hier im Kern ein Gesetz zur bürokratischen Überwältigung einwanderungswilliger Fachkräfte. Ein echtes Fachkräfteeinwanderungsgesetz gibt es erst seit 2019. Allerdings stellt sich auch die Frage, wie konkurrenzfähig Deutschland für IT-Fachkräfte gewesen wäre: Dem Unterbau aus universitärer Ausbildung und Grundlagenforschung stand ein Mangel an Firmen-Ökosystemen entgegen. Ganz behoben ist das nicht: Auch jetzt entscheidet sich die Bundesregierung bei ihren Fördermaßnahmen nicht selten für Gießkanne und parteipolitisch gefärbter Standortpolitik statt für gezielte Förderung von Schwerpunkten und Schwerpunktgebieten. Im Bereich Risikofinanzierung wird sich erst mit den Reformen ab 2021 zeigen, ob man eine Liga nach oben klettern kann.
IT-Wildwuchs, Skepsis und zarter Optimismus
Letztlich wird es schwierig, das Versäumte aufzuholen, auf allen Gebieten. Der bestehende Digitalisierungs-Fachkräftemangel zieht sich durch Firmen, aber auch durch viele Ministerien (sieht man oft Gesetzes-Handwerk), Behörden und Institutionen (Schulen können nicht einmal Admins finden). IT-Wildwuchs, also de facto technische Schulden, fesselt staatliche (ich sage nur “IT-Konsolidierung Bund”) wie privatwirtschaftliche Einrichtungen (erfolgreiche Ransomware-Angriffe sind das plakativste Symbol für architektonische IT-Versäumnisse).
Beim mittelständischen Zögern, sich in Richtung datenbasierter Geschäftsmodelle zu entwickeln, kommt dieser Mangel ebenso zur Geltung wie die Grundskepsis gegenüber neuartigen Technologien - das gilt auch für die Leute, die Digitalisierungsstrategie im “Front Office” umsetzen müss(t)en. Angesichts dessen, dass derzeit im “KI”-Bereich ein Überangebot an Schlangenöl-Verkäufern herrscht, kann ich einen Teil der Skepsis sogar nachvollziehen. Währenddessen freut sich T-Systems über lukrative Beratungsaufträge, weil man ja als Firma irgendwas machen muss.
Wenn ich nach diesem Problemaufriss mit einem Funken Optimismus schließe, dann beruht dieser vor allem auf einer Erkenntnis: So schlecht wie der Großteil der vergangenen 15 Jahre ist die Digitalpolitik der Gegenwart nicht mehr, womöglich wird sie in absehbarer Zeit sogar gut. Zumindest werden die Debatten lösungsorientierter und inhaltlich besser.
Unterm Strich würden wir es uns auch zu einfach machen, die Verantwortung für die digitale Transformation nur der Politik zu geben. Deutschland hat in erfolgreichen Jahren an eine lineare Weiterentwicklung der Wirtschaft des 20. Jahrhunderts geglaubt, an ein ungefährdetes Dasein als Exportweltmeister. Dass es nicht so kommen wird, war beim Blick über den Tellerrand schon früh zu erkennen. Doch genau dieser Blick wird hierzulande meist wenig geschätzt.
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#KünstlicheIntelligenz Die Vorhersage-Software (um den irreführenden Begriff “Künstliche Intelligenz” nicht überzustrapazieren) “Alpha Fold” der Alphabet-Tochter DeepMind hat das biologische Problem der Protein-Faltung gelöst*. Sie kann sehr zuverlässig vorhersagen, wie sich Aminosäurenketten in einer Zelle zu einem funktionierenden Biomolekül falten. Das könnte zu großen Fortschritten in Medizin und Arzneimittelforschung führen. Ich schreibe gelöst*, weil in der Forschung eher von einem Fortschritt gesprochen wird. Das Hype-Problem eben. (nature)
#KünstlicheIntelligenzII Die Bundesregierung hat überraschend die Fortschreibung ihrer KI-Strategie verabschiedet. Auf den ersten Blick krankt die Strategie wie viele andere Digital-Papiere der Bundesregierung daran, dass die Ziele nicht an messbare Kriterien gekoppelt sind. (Bundesregierung)
#Geopolitik Die EU-Staaten wollen bis zu ihrer Videokonferenz am Montag eine Initiative zur heimischen Halbleiter-Entwicklung unterzeichnen (“EPI”). Damit soll der Kontinent unabhängiger von internationalen Lieferketten werden. Allerdings fehlen durch die Abwanderung/Schließung des Sektors de facto Produktionsanlagen für Prozessoren mit Strukturbreiten von <7 Nanometer. Es ist deshalb davon auszugehen, dass es eher um grundsätzliche Entwicklung als um Fertigung geht, zumal das ganze Feld kostspielig ist. In diesem Zusammenhang empfehle ich auch Mule’s Musing zur Lektüre: Dort wird beschrieben, wie Apple, Google, Amazon und mittelfristig auch Facebook in die Chip-Fertigung einsteigen, um die vollständige Produktintegration auch auf der Hardware-Seite zu vollziehen. Das ist angesichts der Bedürfnisse von Machine-Learning-Anwendungen sinnvoll und hält nebenbei die Konkurrenz vom Hals. Europas modulares Gegen-Modell käme wohl zu spät. (per E-Mail)
#Metaversum 15,3 Millionen Fortnite-Spieler gleichzeitig haben zum Ende der vierten Staffel (im Marvel-Style) am Kampf gegen den Bösewicht Galactus teilgenommen, etwa 3,4 Millionen Zuschauer verfolgten das Geschehen auf Twitch.
#Business Über die Salesforce-Übernahme von Slack… habe ich eigentlich nicht viel zu sagen, außer: Wenn dein Produkt ein Feature in einem anderen Produkt (Microsoft Teams) werden könnte, hast du ein Problem.
#Facebook-Nachrichtenblock
Facebooks “Gerichtshof” hat die ersten Fälle angenommen, es geht um Nacktheit, Desinformation und Grenzen der Meinungsäußerung.
Das Unternehmen hat zudem die Abteilung aufgelöst, die sich mit umstrittenen Postings von Politikern und digitaler Wählermeinungsmanipulation beschäftigt. Sie wird Teil der Hauptabteilung für “Integrität”.
Und, schließlich: Seit Mittwoch läuft auf Facebook Watch “Rival Peak”. Das ist ein Rund-um-die-Uhr-Reality-TV-Spiel, dessen Charaktere von “künstlicher Intelligenz” gesteuert, aber von Zuschauern beeinflusst werden können. Nur, falls jemand reinschauen mag (“Einschaltquoten” sind bislang mies). (The Verge, The Information, Washington Post)
Lesetipps
The Modern World Has Finally Become Too Complex for Any of Us to Understand
Eine neue Kolumne über die komplexen, de facto in ihrer Mechanik undurchdringbaren Systeme, auf denen unser modernes Leben beruht. Beginnt schon einmal vielversprechend.
NYT-Kolumnist Nicholas Kristof hat mit Frauen gesprochen, die teilweise als Jugendliche ungewollt oder gezwungen in Pornhub-Videos auftauchten und entsprechend traumatisiert sind. Wie immer ein verstörendes Thema, die Kolumne intendiert grundsätzliche Regulierung.
Wird dies ein Jahrzehnt, in dem wir wieder positiver auf Tech(nologie) blicken? Noah Smith glaubt: ja (u.a., weil die Innovationen weniger in Software-Tech, stattdessen in Biotech, Medizintechnik etc. stattfinden werden).
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und bis Ausgabe #05!
Johannes