Hallo zu einer neuen Ausgabe - angesichts der Hitze und eines anstrengenden Wahlsonntags nicht in ganz so epischer Länge.
Brasilien vs. Musk, Frankreich vs. Telegram
Der Oberste Gerichtshof in Brasilien lässt im Konflikt mit Elon Musk X sperren, Frankreich nimmt den Telegram-Gründer Pawel Durow fest. Interessante Zeiten, aber was lässt sich daraus ableiten?
Im Moment haben wir noch kein komplettes Bild - auch durch die relativ detailarme Informationspolitik der brasilianischen und französischen Behörden - noch unklar. Ungefähr lässt es sich so zusammenfassen:
Der Fall in Brasilien
Der brasilianische Richter Alexandre Moraes liefert sich bereits länger mit Musk eine Fehde (siehe Ausgabe #92). Dabei geht es um Musks Weigerung, Dutzende Accounts im Zusammenhang mit Ermittlungen wegen Desinformation rund um den versuchten Staatsstreich zu sperren.
Weil Moraes die Möglichkeit hat, Drohungen und Diffamierungen gegen ihn selbst auch eigenhändig zu untersuchen (“suo moto”), ist er institutionell betrachtet Opfer, Ermittler und Schiedsgericht zugleich. Und hat große Freiheiten. Nachdem Moraes angekündigt hatte, aufgrund der fehlenden Musk--Kooperation den verantwortlichen Mitarbeiter im brasilianischen X-Büro verhaften zu lassen, schloss Musk die Niederlassung. Daraufhin kam die Sperr-Entscheidung, die von den örtlichen Telekom-Anbietern (inzwischen inklusive Starlink) umgesetzt wird. Wer X aus Brasilien per VPN aufruft, muss unter vagen Voraussetzungen mit hohen Geldstrafen rechnen.
Brasiliens Gerichte hatten bereits früher kurzzeitig ähnliche Sperren gegen WhatsApp und Telegram verhängt. Im Zuge der Ermittlungen rund um Bolsonaros Coup-Versuch hatte Moraes auch auf anderen Plattformen Account-Sperren erlassen. Auf einen zunächst angekündigten Erlass gegen Apple und Google, X aus den App-Stores in Brasilien zu nehmen, verzichtete Moraes.
Der Fall in Frankreich
Der russische Telegram-Chef Pawel Durow lebt eigentlich (unter anderem) in Dubai, hat aber auch einen französischen Pass und wurde bei einem Aufenthalt in Frankreich festgenommen. Inzwischen ist es etwas klarer um was es geht: In Telegram-Gruppen werden offenbar größere Mengen von CSAM (Child Sexual Abuse Material) geteilt, also Material, das Missbrauch von Kindern zeigt. Diese Gruppen sind aber nicht Ende-zu-Ende verschlüsselt, wären also für Telegram einsehbar - zum Beispiel für Meldungen, automatisierte Löschungen oder Weitergabe der Informationen an die Ermittler.
Die anderen Plattformen arbeiten bei dem Thema mit dem National Centre for Missing and Exploited Children (NCMEC) und Internet Watch Foundation (IWF) zusammen - das NCMEC zum Beispiel hat eine Hash-Datenbank solchen Materials, das dann mit den Uploads verglichen und geblockt wird. Telegram verzichtet darauf, mit den Organisationen zu kooperieren oder den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten und lässt das Material offenbar, genau wie Gruppen rund um Drogen- und Waffenhandel sowie Geldwäsche, online. Und genau diese fehlende Kooperation - dazu hat es wohl auch in anderen EU-Ländern Überlegungen gegeben - hat zu den Ermittlungen geführt, die Durow Komplizenschaft bei etwaigen Verbrechen nachweisen könnte.
Doch es gibt noch andere Faktoren, die eine Rolle spielen könnten: Eine Anzeige der Mutter seines Sohns aus der Schweiz wegen Gewalt gegen das gemeinsame Kind, die Genehmigungspflicht für den Import bestimmter kryptographischer Methoden nach Frankreich, die unregistrierte Telegram-Kryptowährung “The Open Network Coin” (“TONCOIN”) sowie die Nutzung von Telegram durch russische Truppen im Ukraine-Krieg zum Beispiel. Und dann wäre da auch noch das offensichtliche Interesse von Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten, Zugriff auf die Konversationen innerhalb Telegrams zu bekommen (Max Read geht sogar soweit, Telegram als “profitorientierten Geheimdienst” zu bezeichnen).
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Gemeinsam ist den beiden Fällen, dass sie oft im Lichte eigener politischer Haltungen nach einem Schwarz-Weiß-Schema beurteilt werden: Das Vorgehen gegen Musk und Durow als Zeichen dafür, dass Staaten jetzt ernst machen damit, ihre Gesetze durchzusetzen. Selbst, wenn sie dafür die Konfrontation mit Tech-Milliardären suchen müssen.
Dieser - im progressiven beziehungsweise Establishment-Lager angesiedelte - Anti-Big-Tech-Haltung steht die Haltung im reaktionären und libertären Lager entgegen: Musk und Durow als Opfer staatlicher Zensur- und Einschüchterungsversuche.
Im Kern ist keine der Lesarten wirklich hilfreich: Der Kurs des ehemaligen (ironischerweise konservative) Justizministers Moraes ist umstritten - der institutioneller Zuschnitt für die Untersuchung des Umsturzversuchs ermöglicht gerichtliche Übergriffe. Auf der anderen Seite ist Musk kein Kämpfer für die Meinungsfreiheit, sondern führt auch für Länder mit Rechtsstaatsproblemen wie Indien und die Türkei Block- und Lösch-Ansinnen aus.
Im Fall Durow wiederum ist klar: Niemand kann die Verbreitung von Kindesmissbrauchs-Darstellungen oder Drogen-Marktplatz-Einträgen als “Meinungsfreiheit” verbuchen. Umgekehrt agiert die französische Staatsanwaltschaft eben nicht nur auf Basis der fehlenden Herausgabe von Informationen - sondern macht Durov laut Pressemitteilung a) quasi als Webmaster für die fehlende Gesamt-Moderation der Inhalte verantwortlich und führt b) den problematischen Verschlüsselungs-Importparagraphen auf.
Kurz: Man hat einfach alles aufgelistet, womit man ihn irgendwie in Zusammenhang bringen kann. Das schießt weit über das Ziel hinaus (und beißt sich irgendwie, argumentieren zumindest SZ und Netzpolitik, mit dem DSA, wobei ich das bei konkreten Straftaten nicht so sehen würde).
Es handelt sich also in beiden Fällen um Macht-, beziehungsweise besser “Durchsetzungsproben”. Die aber nicht im luftleeren Raum stattfinden: Frankreich machte jüngst Schlagzeilen, als die Medienaufsicht den reaktionären französischen Kanal CNews zu einer Geldstrafe verdonnerte, weil dort ein Ökonom unwidersprochen den Klimawandel geleugnet hatte. Solche Stiche gegen die Medienfreiheit schwächen die Glaubwürdigkeit des Narrativs von der reinen Rechtsdurchsetzung.
Und nicht zu vergessen: Der Wunsch nach Zugriff auf Plattform-Kommunikation geht auch in Europa insgesamt längst über die Bekämpfung dort stattfindender Verbrechen hinaus, vor allem aus dem Kontext Terror-Abwehr und “Waffengleichheit” mit Internet-Kriminellen (siehe auch die Chatkontrolle-Debatte). Die Zivilgesellschaft sollte also vorsichtig sein, hier einfach nach Sympathien und gefühltem Rechtsverständnis zu entscheiden. Und der Fall Telegram wäre um einiges komplizierter und grundsätzlicher, wenn die Betreiber wirklich durchgehend Ende-zu-Ende verschlüsseln würden (was sie nicht tun).
Es wäre auf der anderen Seite natürlich naiv, Plattform-Betreibern irgendeine andere Motivation als die Absicherung ihres Geschäfts zuzuschreiben. Oder sie zu “unfreiwilligen Verteidigern der Meinungsfreiheit” zu verklären. Aber das ist ja schon vor der Musk-Übernahme von X/Twitter und dem Telegram-Siegeszug eine Binse.
Links
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Bis zur nächsten Woche!
Johannes